Die Spurentruppe, mit einiger Verzögerung eingetroffen, war inzwischen emsig bei der Arbeit. Während noch alle Einzelheiten, ohne die Lage des Toten zu verändern, fotografiert wurden, wurde das ganze Gartengelände nach weiteren Spuren abgesucht, selbst das Projektil hatte man erst nach einiger Zeit gefunden, es steckte in einem Baumstamm, wo man es erst einmal beließ, um es nicht weiter zu beschädigen. Erst gegen Mittag konnte man die Leiche abholen lassen, die Blutlache unter dem Toten fotografieren, später würde man mit der Bildauswertung am Computer beginnen.
VIII.
Frau Ritter waren die morgendlichen Vorgänge auf dem Nachbargrundstück nicht entgangen. Vom nächtlichen Musiklärm hatte sie zwar kaum etwas mitbekommen, ihr Schlafzimmer lag in die andere Richtung. Aber aus dem Küchenfenster hatte sie morgens die Polizei gesehen, nur undeutlich, denn einige Bäume verdeckten die Sicht, zumal der Legrandsche Garten etwas tiefer am Hang lag. Sie ahnte sofort, dass etwas Außergewöhnliches vorgefallen sein musste, weil stundenlang nicht nur Polizei, sondern auch Männer in hellen Overalls sich dort zu schaffen machten. Aber als Gafferin zum Gartenzaun hinunterzugehen, auf diese Idee wäre sie nie gekommen. Man lebte diskret in dieser Gegend, weidete sich nicht an den Peinlichkeiten der Nachbarn. Ohnehin hatte sie Legrand noch nie gesehen, nur von ihm gehört, natürlich auch die monatelange Renovierung der Villa mitbekommen, aber das war auch schon alles. Oder doch nicht ganz. Denn dass sich auch einiger Streit anbahnte um den wahrlich überwuchernden Baumbestand und sich Legrand gerade mit anwaltlichen Schreiben über die Verschattung seines Hauses beklagt und einige Abholzungen verlangt hatte, davon hatte Herr von Hübner ihr ausführlich erzählt. Aber zugleich darüber gelacht, allerdings mehr drohend als freundlich:
»Da wird er nicht mit durchkommen. Wir sind hier nicht an der Elbchaussee, wo man den freien Blick auf den Schiffsverkehr durchsetzen kann. Obwohl, ich weiß gar nicht, wie das dort ist. Hier wird er sich jedenfalls die Zähne ausbeißen, und am Ende gibt es auch noch die städtische Baumsatzung. Da soll er mal was versuchen.«
Herr von Hübner pflegte, zumal wenn er noch bis spät in der Nacht gearbeitet hatte, den Tag langsam zu beginnen. Nicht dass er morgens lange im Bett geblieben wäre, er brauchte nicht viel Schlaf, aber er zog sich dann einen leichten Morgenmantel über den Pyjama, ging kurz ins Bad und bereitete sich erst einmal einen Tee in der Küche und zog sich damit für einige Stunden wieder zurück, nachdem er die Zeitung aus dem Briefkasten gefischt hatte. Diese ungestörten Vormittagsstunden, die sich unterschiedlich lange hinziehen konnten, hatte er sich erst nach dem Tod seiner Frau angewöhnt und Frau Ritter, die ihm den Haushalt führte, hatte sich rücksichtsvoll in dieses Ritual gefügt. Die unausgesprochene Verabredung ging sogar so weit, dass beide sich in diesen Stunden möglichst aus dem Weg gingen, er ließ sich nicht gerne in dieser informellen Kleidung sehen. Auf ein ordentliches Frühstück verzichtete er, deshalb sorgte sie dafür, dass die Keksdose immer gut bestückt war, aus der er sich stattdessen gelegentlich bediente.
Als die Polizei endlich abzog, ging Frau Ritter dann allerdings doch in den Garten, um unauffällig nachzusehen, was denn dort drüben vorgefallen sein könnte. Herrn von Hübner hatte sie diesen Morgen noch nicht gesehen, bei ihm anzuklopfen, wagte sie nicht. Irgendjemand von den Nachbarn anzurufen, um sich zu erkundigen, ob sie etwas wüssten, kam ihr zu aufdringlich vor, als Klatschtante wollte sie nicht ins Gerede kommen. Sie benutzte den Weg, der sich durch das parkartige Gelände schlängelte. Die Bäume, darunter einige sehr dichte Tannen, aber auch eine mächtige Buche, waren in der Tat sehr hoch und breit. Und das ganze Gebüsch müsste wieder einmal gelichtet, die Bäume freigestellt werden. Als sie fast am Zaun angelangt war, sah sie seine Beine, dann Hübner selbst. Er lag ausgestreckt da, in seinem hellen Mantel, die Arme leicht abgewinkelt. Und noch bevor sie näher hinschauen konnte, fiel ihr Blick auf eine Pistole, etwa einen Meter von ihm entfernt, auf dem halbvermoderten Altlaub. Gleich neben dem Auge, dort wo die Schläfe begann, war das Einschussloch.
Ziemlich viele Gedanken auf einmal gingen ihr durch den Kopf, wie ein Wasserfall, der alles mitstürzte, was er erfassen konnte. Nur der Anlass ihres Weges in den Garten war mit einem Male weggestrudelt, sie erinnerte sich nicht mehr. Sie starrte auf das, was sie vor sich sah. Die Pistole hatte sie noch nie gesehen, wusste auch nicht, dass Hübner je eine besessen haben sollte. Eine ziemlich schwere Pistole, die in ihrer schwarzen Glätte matt schimmerte. Das passte nicht zu ihm. Aber was wusste man von einem Menschen wirklich? Wie sie seine Augen sah, die direkt nach oben gerichtet waren, sah sie unwillkürlich zum Himmel, ob auch sie dort oben etwas entdecken könnte. Erst dann sah sie, dass der hintere Schädel geborsten und zertrümmert war, ohne wirklich zu erfassen, was es bedeutete. Der Mantel müsste natürlich gleich in die Reinigung. Hübner sah so leicht aus, fast schwerelos. Aber sie würde es allein nicht schaffen, ihn dort wegzubringen. Mein Gott, er verkühlt sich ja hier im Schatten. Aber er ist doch tot. Kann das sein? Otto, komm zu dir! Aber was sollte denn die Pistole? Du hattest mir nie etwas davon gesagt. Oder ist das gar nicht deine?
Dann schlug sie sich mit der Hand an die Stirn und eilte ins Haus.
Welchen Arzt sollte sie anrufen? An diesem Feiertag war doch sicher keine Praxis besetzt. Und jetzt um die Mittagszeit würde auch unter einer Privatnummer sicher niemand ans Telefon gehen. Sie musste sich erst einmal setzen, gleich neben das Telefon im Hausgang. Nach einem kurzen Moment des Zusammensinkens rückte sie sich gerade zurecht, griff beherzt nach dem Telefonbuch und wählte dann die Nummer des Polizeireviers Süd.
*
Diesmal war Kommissar Hopf fast zur gleichen Zeit wie der Polizeiposten angekommen. Obwohl er gerade dabei war, die wichtigsten erreichbaren Leute zusammenzutrommeln, selbst der Chef musste in wenigen Augenblicken eintreffen, um die hauptsächlichen Aufgaben zu koordinieren, hatte er alles stehen und liegen lassen, um erneut in den Kapellenweg zu eilen. Mit seinem Assistenten war er sofort in den Garten gegangen, Frau Ritter war nicht mitgekommen, ein Polizist blieb im Haus bei ihr. Stumm war Hopf vor der Leiche stehen geblieben, bückte sich nicht einmal nach ihr. Dann fuhr es aus ihm heraus:
»Unglaublich! Warum hat das niemand gesehen? Die rennen den ganzen Vormittag da drüben herum und sehen nicht, dass hier ein weiterer Toter liegt. Und ich kriege das natürlich auf die Mütze. Diese Saftsäcke!«
Sein Adrenalinpegel musste ziemlich angestiegen sein. Der Assistent sagte erst einmal nichts und blickte verlegen um sich. Erst als Hopf sich etwas beruhigter vernehmen ließ:
»Any way!«, wagte der Assistent etwas kleinlaut eine Bemerkung. »Sieht so aus, als könnte Legrand von hier aus erschossen worden sein.«
»Sieht doch ein Blinder mit dem Krückstock«, schwoll Hopf wieder an.
»Aber die von der Spurensicherung werden wohl nochmals kommen müssen.«
Hopf schwieg eine Weile, dann wies er an:
»Ruf sie her. Aber sie sollen sich beeilen.« Nach einer Weile fügte er besänftigend hinzu: »Wenn wir Glück haben, klärt sich das alles wenigstens schnell auf.«
Der Assistent sah so fragend zu Hopf, dass der fortsetzte:
»Wenn der hier Legrand erschossen hat … Sieht ja so aus, als habe er sich danach selbst die Kugel gegeben.«
Hopf wartete, bis die Techniker noch einmal mit ihrem ganzen Equipment eingetroffen waren, und pfiff sie ganz schön an. Eigentlich ging man mit der Spurenkommission, alles hervorragende kriminaltechnische Fachleute, nicht so um. Denn auf sie, die in ihren Labors und