Fantasy. Martin Hein. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Martin Hein
Издательство: Bookwire
Серия: Musiker-Biografie
Жанр произведения: Изобразительное искусство, фотография
Год издания: 0
isbn: 9783708105260
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auch vor uns Kindern niemals böse oder abfällig über ihn geredet. Wir bekamen zwar mit, wie sauer sie auf ihn war. Trotzdem wussten wir, dass im Ernstfall, wenn wir sie brauchten, beide Eltern für uns da sein würden. Das war ein beruhigendes Gefühl.

      Mein Vater war in jungen Jahren Musiker. Gitarrist und Sänger in einer kleinen Dorf-Band in Polen. Deshalb wünschte ich mir, als ich 13 Jahre alt war, auch eine Gitarre zu Weihnachten. Mein Stiefvater Franz hat sie mir schließlich gekauft. Natürlich der Franz, wer sonst?

      Als ich meinen Vater im Januar darauf besuchte, nahm ich die Gitarre mit. Ich war so stolz! Tatsächlich schlug er vor, mir drei Akkorde beizubringen. Die sollte ich üben, damit ich einfache Lieder spielen könnte. Das hat mich fasziniert. Ab da übten wir jedes Mal auf der Gitarre, wenn ich bei ihm war. Wir saßen nebeneinander, spielten und waren glücklich. Zumindest dachte ich das.

      Eines Tages waren wir bei Freunden von Papa zum Grillen eingeladen. Als wir spät abends nach Hause kamen, ging ich gleich ins Bett. Mein Vater setzte sich zu mir auf die Kante. Er war leicht angetrunken und sagte zu mir: „Martin. Bitte denk daran, ich liebe deinen Bruder und dich mehr als mein Leben. Ganz egal, was auch passiert.“ Ich gab ihm noch einen Kuss und schlief sofort ein. Gedanken darüber, was er mit diesem mysteriösen Satz gemeint haben könnte, machte ich mir erst Tage später.

      Was soll ich sagen – von meinem Vater habe ich ab diesem Tag nichts mehr gehört. Es vergingen Tage, Wochen, Monate ohne ein Lebenszeichen. Wir wunderten uns zwar darüber, aber wir trauten uns auch nicht, ihn anzurufen, da es sonst immer er gewesen war, der sich bei uns gemeldet hatte.

      Ich vermisste meinen Vater unendlich. Aber mein kindliches Urvertrauen sagte mir, dass es für ihn sicher einen triftigen Grund gebe, weshalb er sich zurückgezogen hatte.

      Fast vier Jahre später wussten wir endlich, was dahintersteckte. Meine Eltern waren immer noch nicht geschieden, und der Trennungskrieg tobte nach wie vor. Eines Tages lag dann ein Schreiben im Briefkasten, das eindeutig nichts Gutes verhieß. Als wir es gelesen hatten, stand jeder von uns unter Schock. Es war eine Vorladung für meinen Bruder und mich zum Zwecke eines Vaterschaftstests. Das hat uns natürlich die Beine weggezogen. Meine Mutter wechselte zwischen Sprachlosigkeit und hysterischem Geschrei. Sie sagte: „Euer Vater und ich stammen aus demselben kleinen Dorf. Wir kennen uns seit der Schulzeit. Ich war 16, er war der erste Mann, mit dem ich intim war. Und jetzt unterstellt er mir, seine beiden Kinder seien nicht von ihm?“ Sie war fix und fertig. Mein Bruder und ich aber auch.

      Es half aber alles nichts. Uns beiden wurde Blut abgenommen. Einige Tage später stand das Ergebnis fest: „Anton Hein ist zu 99,999 Prozent der Vater von Martin Hein und Damian Hein.“ Nun hatte er es Schwarz auf Weiß.

      An der Situation änderte sich aber trotzdem nichts mehr. Mein Vater wollte keinen Kontakt mehr zu seinen Söhnen haben. Und die nächsten 15 Jahre sollte das auch so bleiben.

      Immerhin war dies die letzte Demütigung, die er meiner Mutter mitgab. Nach fast sechs Jahren Kampf wurden sie dann wenig später endlich offiziell geschieden.

      In dieser heißen Phase der familiären Auseinandersetzung war ich natürlich wahnsinnig traurig über sein Verhalten. Erst viel später lernte ich auch ein wenig darüber zu schmunzeln. Die drei Akkorde, die mir mein Vater in seinem Wohnzimmer auf der Gitarre beigebracht hatte, waren nicht etwa C, F und G. Sondern A, D und E. Schreibt man sie ohne Komma nebeneinander, ergibt das: Ade.

      Franz hat mich aufgefangen. Ihm habe ich es zu verdanken, dass ich meinen leiblichen Vater gar nicht so extrem vermisst habe. Das waren höchstens Momente, in denen ich unter seiner Abwesenheit litt. Heute weiß ich, dass ich ihn einfach aus meinem Herzen und meinen Gedanken verdrängt habe. Aus Selbstschutz. Sonst wäre ich wahrscheinlich in irgendeiner Psychotherapie gelandet. Wer weiß, was dann aus mir geworden wäre.

      So kalt es vielleicht klingen mag, es fehlte mir an nichts. Im Gegenteil. Dank der beiden Gehälter von Franz und meiner Mutter konnten wir uns Schritt für Schritt ein besseres, angenehmeres Leben leisten. Franz hat als Bergmann gutes Geld verdient, und wir konnten schließlich in eine größere Wohnung mit drei Zimmern umziehen. Trotzdem musste ich mir mit meinem Bruder das Kinderzimmer teilen. Mit 14, 15, als dann die Kumpels öfter zu Besuch kamen oder auch die ersten Mädchen, hat er mich natürlich oft gestört. Aber alles in allem haben wir uns gut verstanden. Und nach einer klaren Ansage von mir verstand Damian schließlich auch, dass er nicht mal im Traum daran denken solle, mich und meine Kumpels abends begleiten zu wollen …

      Kapitel 9:

      Die Schule ist für Fredi ein notwendiges Übel

      Meine Schulzeit könnte man in einem Satz zusammenfassen: Sie war bescheiden. Und ich habe letztlich auch nur so lange durchgehalten (und die Hauptschule nach der siebten Klasse dann doch ohne Abschluss verlassen), weil ich meine Mama sonst wahrscheinlich endgültig in den Wahnsinn getrieben hätte. Unser Verhältnis war wegen meiner Gesangsleidenschaft eh schon angespannt genug. Und ich wollte es nicht auf die Spitze treiben. Als ich eingeschult wurde, hatte ich zuerst richtig Lust darauf, Neues zu lernen. Doch als ich dann in der zweiten Klasse war, ist mein Vater gestorben. Als Siebenjähriger kann man damit sowieso nur ganz schwer umgehen, und durch den Schock über den plötzlichen Verlust hatte ich auf einmal die Lust an der Schule verloren. Und zwar komplett. Ich hatte Schwierigkeiten, mich zu konzentrieren. Ich litt unter einem regelrechten Trauma. Ich glaube sogar, das ist auch heute noch teilweise da. Jedes Mal, wenn ich über meinen Vater rede, bin ich nach wie vor total erschüttert und fange an zu weinen. Als Kind oder als Teenager hatte ich niemals Gelegenheit, meine Trauer in Worte zu fassen. Meine Mutter, meine Onkel und Tanten redeten so gut wie nie vor uns Kindern über meinen Vater. Geschweige denn fragte mal einer, wie es mir denn gehe oder ob ich Hilfe bräuchte.

      Dies hatte zur Folge, dass ich in der Schule plötzlich komplett versagte und eine ganz große Lernschwäche bekam. Meine Lehrerin fand ich von Anfang an doof. Ich erinnere mich, dass sie meine Mutter oft in die Schule bat, um sich dann über mich zu beschweren. Ich war sehr traurig, dass meine Mama nicht in der Lage war, dieser Frau vernünftig zu erklären, wo mein Verhalten herrührte, nämlich vom frühen Tod meines Vaters, und dass ich eine schwere Zeit durchmachte. Meine Lehrerin hat sich aber auch nicht darum bemüht, mögliche Gründe zu finden. Sie hatte überhaupt kein Interesse an mir, auch nicht an meinen Mitschülern. Sie spulte ihren Unterrichtsstoff ab, alles streng nach Lehrplan. Für zwischenmenschliche Töne fehlten ihr schier jegliche Emotionen. Dabei war sie noch gar nicht so alt, höchstens Anfang 40.

      In der dritten Klasse ging es dann wieder ein bisschen aufwärts mit mir. Allerdings war ich in der zweiten Klasse sitzengeblieben und musste eine Ehrenrunde drehen, wie es so schön heißt. In der dritten (meine Kumpels waren ja bereits in der vierten) konnte ich dann auch plötzlich lesen, was mir vorher nie gelingen wollte. Eines Morgens saß ich im Deutschunterricht, blickte vor zur Tafel und sagte mir: „Mensch, Fredi, es kann doch nicht sein, dass du nicht lesen kannst.“ Und irgendwann in dieser Stunde habe ich mich dann so konzentriert auf jedes einzelne Wort und habe mir die Buchstaben so zusammensortiert, dass ich ganz sicher war zu wissen, was dort an der Tafel stand.

      Ich streckte den Arm in die Höhe. Als ich aufgerufen wurde, las ich den Satz vor. Meine Lehrerin war völlig überrascht, dass ich mich freiwillig zum Vorlesen gemeldet hatte. Und ich war natürlich auch erschrocken über mich selbst, dass es geklappt hatte. An jenem Tag fing ich an zu lesen. Heute lese ich sehr, sehr gut. Erstaunlicherweise. Ich glaube, besser als mancher andere. Wenn wir Radio-Interviews geben und ich im Studio bin, frage ich die Redakteure oft, ob ich im Studio die Stau-Nachrichten oder anderes vorlesen dürfe. Ich habe da richtig Spaß dran. Zu Beginn bemerke ich jedes Mal eine Blockade, aber mit jedem Wort werde ich freier und mutiger. Mir wurde übrigens schon oft gesagt, dass ich die perfekte Radiostimme hätte und dass ich auch gut als Radiosprecher oder Moderator arbeiten könne.

      Nach der Grundschule folgte die Hauptschule. An meinem ersten Tag in der fünften Klasse fühlte ich mich gut. In der Pause gingen alle Kinder raus in den Hof. Ich war schon immer ein bisschen anders als andere Jungs in meinem Alter, sehr feminin und sensibel. Ich weiß nicht, woran das gelegen hat. Ich war auch sehr zierlich, dünn und blass. Sodass die anderen Jungen mich gar nicht wahrgenommen