Zerbröseln die Wände des Kerkers, in den man sie vor langer Zeit gesperrt und in dem man ihnen weisgemacht hatte, die Vorgaben des Leistungswahnsystems hätten etwas mit der Welt und dem Leben zu tun, drehen diese gesellschaftlich determinierten Sportkretins nicht selten durch. Das teilen sie mit anderen Zwangscharakteren und Paranoikern, mit Hochstaplern und Wertpapierzockern, mit von Allmachtsphantasien heimgesuchten Politikern, mit bigotten Kirchenmännern und anderen Schwindlern, die sich seit Jahr und Tag in die eigene Tasche lügen, unausgesetzt die Öffentlichkeit betrügen und jene dann, wenn sie tatsächlich oder vermeintlich ertappt worden sind, nach den guten, alten Regeln des Manichäismus in die Bataillone der Gefolgsleute und der Feinde unterteilen.
Wir reden hier von keiner bestimmten Person. Wir haben lediglich in jüngster Zeit zufällig etwas genauer der Eisschnelläuferin Claudia Pechstein zugehört und ihre kürzlich auf den Markt gebrummte Autobiographie mit dem an einen Abenteuerroman erinnernden Titel Von Gold und Blut (Berlin 2010) gelesen. Doch, das haben wir, wir glauben es beinahe selber nicht.
»Ich weiß jetzt, wer auf die Liste der Freunde gehört und wer auf die der Feinde«, hat die fünffache Olympiasiegerin, x-fache Welt- und Sonstwasmeisterin sowie Topethikerin bei der Vorstellung ihrer »Selberlebensbeschreibung«, wie Jean Paul derartige Bücher nannte, kundgetan, wobei in unserem Fall Pechsteins Manager Ralf Grengel, ein, so heißt es, ehemaliger Sportjournalist, aufgeschrieben hat, was ihm jene Dame erzählte, die zum Opfer des laut Klappentext »größten Justizirrtums in der Geschichte des Anti-Doping-Kampfes« wurde. Doch, das Wort »Opfer« ist richtig gewählt. Dieter Bohlen, gleichfalls ein Meister im Metier der autobiographischen Parfümierung, hätte allerdings »Megaopfer« gesagt.
»Anomalie oder Doping? Auf diese Frage brachen sie mein Schicksal herunter«, heißt es, die auf nahezu fünfhundert vor Esprit und Eleganz glühende Seiten ausgewalzte Exkulpationsschrift beschließend, im letzten Kapitel, in dem die seit dem Februar 2009 wegen erhöhter Retikulozytenwerte von der Internationalen Eislaufunion ISU gesperrte und von allerlei Unholden »unschuldig verfolgte« ehemalige Goldsilberbronzeschwarzrotgoldmarie noch einmal den Säbel und wider die Schurken im »Anti-Doping-Sumpf« zu Felde zieht, nicht ohne allen Ernstes zehn Vorschläge zur Reform der Dopingkontrollen zu unterbreiten, die »eine durchschlagende Glaubwürdigkeit im Kampf gegen die Betrüger« zur Folge haben sollen.
Wir befinden uns im falschen Buch? Nein, Claudia Pechstein befindet sich bis zur letzten Seite permanent, wir haben irgendwann aufgehört zu zählen, »im falschen Film«, den manch anderer als den richtigen, nämlich als Realität bezeichnen würde.
»Schicksal« – auch dieser Ausdruck paßt wie Kaviar zu Vanilleeis. »Ich wurde bejubelt, gefeiert, hofiert. Und öffentlich hingerichtet.« Es richtete »sich das Schwert gegen mich […]. Mit aller Schärfe. Um jeden Preis.« – »Es war stets mein größter Alptraum, mein Name könne in einem Atemzug mit dem Wort ›Doping‹ genannt werden.« Ja, ein Schicksal von antikischer Größe und Tragik, eine Verschlingung von Glorie und Perfidie, ein Epos über Ruhm und Hinterlist, das es locker mit Homer mal Vergil im Quadrat aufnehmen kann. »Mein Leben zwischen Olymp und Hölle« lautet denn auch der Untertitel. Man ist schier fassungslos – ob der Aufdringlichkeit jener Liaison, die das niedere Skribententum mit der Hybris einer auf Kufen durch die grunzgescheite Sportgeschichte kurvenden Polizeihauptmeisterin, die noch nicht allzu viele Paßkontrollen durchgeführt haben dürfte, in dieser Causa eingegangen ist.
Bis heute liegt kein stichhaltiger Nachweis über Claudia Pechsteins durch ständig neue und überarbeitete Gutachten angeblich belegte Kugelzellanomalie vor. Vielmehr soll sie mittlerweile an der noch selteneren Xerozytose leiden, was, milde ausgedrückt, schwer nachweisbar wäre. Dessenungeachtet marschieren durch diesen schon sagenhaft redundant-geifernden Buchstiefel unverdrossen mantraartig die Begriffe »Hexenjagd«, »öffentliche Stimmungsmache«, »öffentliche Hinrichtung«, »Bannstrahl«, »Jagdfieber«, »Vorverurteilung«, »Riesensauerei«, »Glaubenskrieg«, »Feldzug«, »Berufsverbot«, »Scheiterhaufen« und »faule Tricks«, um das Lager derjenigen Richter, Funktionäre und Journalisten zu kennzeichnen, die Pechstein »abschlachten« wollten und wollen. Nur gut, daß Claudia Pechstein Bild und Bild am Sonntag, die ehernen Garanten von Moral und Integrität, auf ihrer Seite weiß. Und nur gut, daß sie ihr blitzsauberes dualistisches Weltbild mit putzigen Medaillenposerphotos garniert, auf die wir uns hier keinen zweiten Reim machen wollen.
»Was für ein linkes Ding. Ich kann gar nicht so viel essen, wie ich kotzen könnte«, diktierte Claudia Pechstein Ralf Grengel aufs unschuldige Tonband. Als »echtes Kampfschwein« tituliert sich die, scheint’s, lauterste und fairste Sportlerin der jüngeren Menschheitsgeschichte, und bevor wir die von der unheiligen Inquisition verfolgte Wintersportgranate heiligsprechen und ihr obendrein für die Zweitauflage den Titel Ich, Claudi – Die ehrliche Lycrahaut spendieren, bleibe abschließend nicht unerwähnt, daß die von der ISU »mit Schimpf und Schande« Überhäufte daran dachte, sich »dem Absturz, der ganzen Ausweglosigkeit« durch Selbstmord zu entziehen – und das auf eine derart patzig-schmierige Manier schildert, daß wir zu fragen wagen: Obszöne Koketterie? PR-Frechheit? Und mit Bertolt Brecht hinterherschicken: »nachbar, euren speikübel!«
Es gibt Bücher, die man mit der Kneifzange anfassen muß. Und es gibt Bücher, mit denen man nicht mal mittelbar in Berührung kommen sollte. »Ich wünsche mir, daß das Buch zur Pflichtlektüre für Journalisten wird«, sagte Claudia Pechstein bei der Vorstellung. In den Redaktionen der Springer-Presse dürfte ihr Wunsch erhört werden.
Gekasschnitzel
Am Freitagabend sagte Achim Greser auf der Titanic-Weihnachtsfeier zu mir, beim Fußballgucken bereite ihm Matthias Sammer am meisten Freude. Wenn Sammer als Sky-Experte im Einsatz sei, zähle er, Achim, immer mit, wie oft der DFB-Sportdirektor die Phrase »ein Stück weit« verwende. Sammer rage aus dem Heer der »Ein Stück weit«-Automaten mindestens »ein Stück weit« heraus, meinte Achim, der darüber hinaus betonte, daß in der laufenden Saison so viele Tore wie seit langem nicht mehr fielen und so viele Auswärtssiege wie seit Jahren nicht mehr zu verzeichnen seien.
Ich schaue mir Frankfurt gegen Mainz im Kyklamino an. Die Eintracht hat eine exzellente Auswärts- und eine miserable Heimbilanz. Das verspricht einen vergnüglichen Nachmittag, zumal da Tuchels Team mit einer »flachen Vier« spielt und die »gefühlte Ballbesitzzeit«, wie der Reporter mitteilt, erstaunlich, ja: intensiv sei? Hoch sei? Eine hohe Zeit?
Noch besser würde ich mich fühlen, stünde ich jetzt auf der Hohen Acht und blickte über die wunderbare, verschneite Eifel. In der 35. Minute erzielt allerdings Russ das 1:0. Wenn der Russ’ mal kommt, ist alles zu spät, das weiß man, und deshalb sagt mein Kumpel Berry: »Dann gibt’s heute ein Fünfnull.«
Ein paar Minuten später tritt Risse auf und schlägt den Russ’ zurück. So. Berry: »Jetzt verlier’n sie.«
Ich überlege, ob ich eine hochnotwendige Kritik der Werbebande zusammenschmieren sollte, verwerfe den Gedanken aber nach dem nächsten Schluck Bier. Nach dem »Pausentee« (Reporter) ist die »gestiegene Erwartungshaltung« (laut Postkarte von Eckhard Henscheid tauchte die kürzlich in einem Sportbericht gleich viermal auf) förmlich mit den Ohren zu sehen. Berry: »Der Meier ist für den Grabowski gekommen.« Mir geht das ständige Reklamieren auf den Geist, dieses Träntütentheater. Fußball, schreibt Pit Chotjewitz, ist »eine Geschlechtskrankheit«.
Mainz sei nun »gut im Schuh«, klärt uns der Reporter auf. Sia sieht heute klasse aus. Berry erzählt: »Ich hab’ noch nie so viele Besoffene vor dem Stadion rumliegen sehen wie in Dortmund.« Wirt Apollo kommentiert die Vorstellung