Doch wie es das Schicksal so wollte, kam es zu einer Art göttlicher Fügung. Zu jener Zeit hatte ihr Vater Richard Bullock Ella Vera noch ein wenig Geld für den Unterhalt von Anna und Alline geschickt. Als plötzlich kein Geld mehr floss, mussten Anna und Alline zurück in die Gegend um Nutbush, wo sie bei Oma Roxanna und Onkel Gill einzogen.
Damit verließen sie Lauderdale County und kehrten zurück nach Haywood County, das zu einem ganz anderen Schulbezirk gehörte. Auf einmal war Anna Schülerin der Carver High – der Schule, auf die auch Harry ging! Es war einfach perfekt.
Dass sie nun an die Carver High gekommen war, brachte viele positive Veränderungen in Annas Leben mit sich. Zunächst einmal begann der dortige Schulleiter Anna zu mögen. Er hieß Roy Bond. Eines Tages hatte sie sich in der Schule ein wenig daneben benommen und wurde zum Direktor geschickt. Mr. Bond sah Anna Mae Bullock kurz an und sagte dann zu ihr, dass er von ihr „Besseres“ erwarte. Mit einem solch ungebührlichen Verhalten hätte er eher bei einem anderen Schüler gerechnet – aber sicherlich nicht bei ihr. Diese Aussage brachte Anna dazu, sich einer kritischen Selbstbetrachtung zu unterziehen. In seinem Büro erteilte Mr. Bond ihr eine Strafpredigt zu ihrem Verhalten und sagte zu ihr, für ihn sei klar, dass sie nicht wie die anderen Schüler sei, er sehe in ihr etwas Besonderes. Nun, vielleicht war es ja gar nicht so schlecht, anders zu sein.
Sie hatte nicht das Gefühl, gerade vom Direktor abgestraft worden zu sein. Es ging ihr eher ein Licht auf. Sie hatte immer gespürt, irgendwie anders zu sein, nicht überallhin zu passen. Möglicherweise war das ja etwas Gutes, vielleicht besaß sie eine besondere Eigenschaft, die anderen ins Auge fiel.
Dass Anna keine Eltern zu Hause hatte, war im Lehrerkollegium allgemein bekannt. Anna merkte, dass die Lehrer, einer nach dem anderen, anfingen, nach ihr zu schauen, und ihr dabei halfen, zurechtzukommen. Einmal sah die Schulbibliothekarin Anna vorbeilaufen und hielt sie an. Anna wurde von ihr darüber aufgeklärt, dass es sich für eine junge Dame nicht zieme, mit so einer schlechten Haltung und herausgestrecktem Bauch herumzulaufen. Sie müsse den Bauch einziehen und die Leute, besonders die Jungs, dürften sie nicht mit herausgestrecktem Bauch zu sehen bekommen. Von da an war Anna immer auf eine gute Haltung bedacht und achtete auf ihr Benehmen.
Nun, da sie zur Carver High School ging, begann Anna auch bald mit anderen Aktivitäten. Sie ging nicht nur ins Cheerleader-Team, sondern spielte auch in der schuleigenen Mädchenmannschaft Basketball. Sie war so mit ihren Nachmittagsaktivitäten an der Schule beschäftigt, dass sie manchmal, statt den Bus nach Hause zu Oma Roxanna zu nehmen, in der Stadt blieb und bei einer der anderen Cheerleaderinnen, Carolyn Bond (die aber nicht direkt mit dem Schuldirektor Mr. Bond verwandt war), übernachtete. Anna wurde auch Mitglied im Laufteam der Schule und erwies sich dort als schnelle und wettkampforientierte Läuferin. Mochte sie auch noch so sehr über ihre dünnen Beine gejammert haben, so stand doch fest, dass sie viel Kraft in diesen Beinen hatte und sie zu gebrauchen wusste.
Carolyn Bond erinnerte sich später, wie energiegeladen und beliebt Anna an der Carver High School war. Sie wirkte bei den Theateraufführungen der Schule und allen dort veranstalteten Talentshows mit. Bei Basketballspielen ging Anna in der Halbzeit aufs Feld und wurde zur Entertainerin: Sie tanzte und sang zu Musik, die vom Band kam.
Anna und Carolyn waren auch gemeinsam im Schulchor. Anna liebte es zu singen, und alle ihre Klassenkameraden bemerkten verblüfft, was für eine tolle Stimme sie – schon damals – besaß. Für schwarze Jugendliche gab es damals nicht allzu viele Orte, an denen sie ihre Zeit verbringen konnten. Um den Schülern ein organisiertes Freizeitprogramm zu bieten, veranstaltete die Schule an Samstagnachmittagen Tanzpartys. Auch dorthin ging Anna sehr gerne.
An den Abenden, an denen Anna bei Carolyn übernachtete, merkte diese, dass Anna nie Kleidung zum Wechseln dabei hatte, die sie nach den Veranstaltungen, die sie besuchten, anziehen konnte. Oft borgte Carolyn ihr deshalb einige ihrer eigenen Kleidungsstücke. Ganz besonders gefiel Anna ein bestimmtes Paar Jeans, das Carolyn besaß – denn sie fand, dass ihre Beine und Hüften darin kräftiger aussahen.
An dem Wochenende vor Beginn des nächsten Schuljahres gingen Anna und Alline nach Brownsville, um dort ein wenig herumzulaufen und die Lage zu peilen. Da sie nicht vorhatten, sich irgendetwas Besonderes anzuschauen oder zu machen, trug Anna eines der Kleider, das sie nicht sonderlich mochte. Ihren Erzählungen nach trugen die schwarzen Jungs in Brownsville weiße Hemden sowie hautenge Bluejeans und die Röcke und Blusen der Mädchen, mit denen sie herumhingen, entsprachen von ihrem Stil her ganz der in den 1950ern beliebten Rock & Roll-Mode.
Natürlich lief sie zufällig just an diesem Abend ihrem Traummann in die Arme: Harry Taylor. Er trieb sich mit ein paar Freunden in der Innenstadt von Brownsville herum, in einem Viertel, das ebenfalls als „The Hole“ bekannt war. Auf einmal wurde Anna sehr schüchtern und drückte sich eine Weile dort herum, in der Hoffnung, dass er sie bemerkte. Selbstverständlich entdeckte Harry sie. Er kam zu Anna herüber und fing ein Gespräch mit ihr an. Es knisterte gewaltig und Annas erste Liebesbeziehung nahm ihren Anfang.
Mit Beginn des neuen Schuljahres wurden Anna und Harry ein Paar. Als Anna auf der Bildfläche erschien, trennte sich Harry von seiner damaligen Freundin Antonia Stubbs. Sein Herz schlug nun für die magere kleine Anna Mae.
Mittwochabends kam Harry immer gemeinsam mit einem seiner Freunde namens John Thankster bei ihr zu Hause vorbei. Die „offizielle“ Variante war, dass Harry und John Anna und Alline abholten, um mit ihnen ins Kino zu gehen, was Oma Roxanna milde stimmte. Doch des Öfteren hatten sie gar nicht vor, ins Kino zu gehen. John und Alline gingen oft in einen „Juke Joint“ im Ort – einen aus einem Raum bestehenden Club mit Alkoholausschank und einer Jukebox. Da beide weder rauchten noch tranken, blieben Anna und Harry im Auto.
An einem der langen Abende, die sie in Johns Auto verbrachten, schliefen Anna und Harry auf dem Rücksitz des Autos miteinander. Wie in ihrem 80er-Jahre-Song „Steamy Windows“, verlor Anna Mae hinter den beschlagenen Fensterscheiben mit Harry ihre Unschuld.
Später erinnerte sie sich: „Es tat so wahnsinnig weh, ich hatte das Gefühl, dass mein ganzer Körper bis hin zu den Ohrläppchen schmerzte. Oh Gott, ich dachte, ich sterbe. Und er wollte es gleich zwei- oder dreimal hintereinander machen! Es war, wie wenn man in einer offenen Wunde herumstochert. Ich konnte danach kaum laufen.“ (4)
Das Kleid, das Anna an dem Abend auf dem Autorücksitz anhatte, war total verschmutzt. Sie hielt sich für besonders clever, als sie es zusammenknüllte und ganz nach unten in einen großen Koffer stopfte, der unter ihrem Bett stand. Leider hatte sie das Pech, dass Oma Roxanna am nächsten Tag beschloss, dass es Zeit für einen Frühjahrsputz sei. Sie konfrontierte sie mit dem Kleid und Anna versuchte ihr glaubhaft zu machen, dass sie gerade ihre Periode bekommen habe und ihr Kleid deshalb so dreckig sei. Doch Oma Roxanna war viel zu klug und ließ sich von ihrer Enkelin keinen Bären aufbinden. Sie sagte zu ihr, dass das ihre Sache sei, wenn sie unbedingt schwanger werden wolle, da sie weder Vater noch Mutter hatte, die auf sie Acht geben konnten. Für eine ganze Weile war dies das letzte Mal, dass Harry Anna zu Hause abholen durfte, um mit ihr „ins Kino“ zu gehen.
Anna merkte bald, dass Harry jetzt, da sie zu einer seiner sexuellen Eroberungen geworden war, nicht mehr ganz so großes Interesse an ihr hatte. In der Schule war er ein sehr beliebter junger Mann und es dauerte nicht lange, da begann er eine Beziehung mit Annas Freundin Carolyn. Jedoch hielt auch das nicht lange. Bald machte Harry seinen Schulabschluss und ging zur Air Force. Anna traf ihn noch ab und zu. Eines Tages erzählte ihr eine Freundin im Schulbus, dass Harry ganz plötzlich geheiratet habe. Als er Theresa, eine seiner Freundinnen, geschwängert hatte, setzte sie ihn dahingehend unter Druck.
Als Anna von dieser Neuigkeit erfuhr, war sie am Boden zerstört. In ihrem Herzen hatte sie weiterhin die Vorstellung gehegt, dass Harry und sie eines Tages wieder zusammenfinden würden. Doch das sollte nicht sein. Ihr ganzes Leben schien in sich zusammenzubrechen. Ihre Mutter hatte sie verlassen und dann ihr Vater. Ihre Cousine Margaret war bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Alline stand kurz vor ihrem