Auf seine eigene, etwas raue Art versuchte Ike zu erklären, was den besonderen Sound des Liedes ausmachte: „Ich ging da nicht rein, um irgendwas völlig Neuartiges aufzunehmen. Für mich ist ‚Rocket 88‘ eine Mischung aus Rhythm & Blues und Boogie-Woogie.“ (15)
Jackie Brenston war überzeugt davon, es nun zum großen Gesangsstar gebracht zu haben, und verließ die Kings of Rhythm auf der Stelle. Bei einer Aufnahmesession von B.B. King wurde Ike zufällig einem Mann namens Joe Bahari vorgestellt, dem die Plattenfirma Modern/RPM Records gehörte. Bald darauf arbeitete Turner für Bahari. Er war damit betraut, neue Blues-Talente zu entdecken, die dann bei Baharis Label Aufnahmen machen sollten.
Parallel dazu arbeitete Ike weiterhin mit den Kings of Rhythm zusammen. Mit der Single „My Heart Belongs To You“, auf der außerdem das Lied „Looking For My Baby“ zu hören war und die 1952 herauskam, stellte Turner die Weichen für die Band, die später unter dem Namen „The Ike & Tina Turner Revue“ bekannt werden sollte. Als Sänger waren darauf „Bonnie und Ike Turner“ angegeben. Im darauffolgenden Jahr wurden vier weitere Stücke von „Ike & Bonnie Turner“ aufgenommen. Doch die Aufnahmen hatten überhaupt keinen Erfolg. Ike schien ein großartiger Musiker zu sein, doch niemand mochte wirklich seinen Gesang.
Ikes Gesangsstimme, wie sie auf einigen der späteren Ike & Tina-Alben zu hören war, klingt in keiner Weise markant oder auch nur angenehm. Stattdessen ist sie flach, dünn und besitzt überhaupt keine Klangtiefe. Ike schrieb und machte großartige Musik, konnte aber schlicht und einfach nicht singen.
1953 waren die Pianistin Bonnie Mae Wilson und ein Sänger namens Johnny O’Neal Teil der neuesten Bandzusammensetzung. Nach einem Muster, das sich später bei ihm wiederholen sollte, heiratete er Bonnie und sie machten weiterhin zusammen Musik. Doch es dauerte nicht lange, bis sich Bonnie von der Bühne zurückzog und im Rahmen von Ikes florierenden musikalischen Aktivitäten im Businessbereich arbeitete. Allerdings endete ihre Ehe kurze Zeit später.
In den nächsten drei Jahren hatten Ike und seine Kings of Rhythm gut zu tun und brachten Dutzende von Singles bei den Plattenfirmen Sun, Modern, RPM und Federal Records heraus.
1956 dann hatte Ike einen Mann namens Billy Gayle als Leadsänger in seiner Band. Sie nahmen einen Hit bei Federal Records auf, der den Titel „I’m Tore Up“ trug. Wieder war es so, dass, sobald die Platte sich als Hit herausstellte, Gayle ebenfalls die Band verließ. Irgendwie schien sich in den Ablauf der Dinge schon ein gewisses Muster eingeschliffen zu haben. Ike hoffte verzweifelt darauf, einen Sänger zu finden, der bei ihm bleiben würde.
An dem Abend, an dem sich Anna Mae Bullock Ikes Konzert anschaute, war sie völlig gebannt von dem, was sie auf der Bühne sah und hörte. Bei seiner Bühnenshow hatte Ike schon seinen festen Ablauf: Er bat hübsche Frauen aus dem Publikum auf die Bühne, die dann mit seiner Band zusammen singen durften. Es wurde ein mit einem langen Kabel versehenes Mikrofon herumgereicht. Natürlich war es so, dass einige Frauen tolle Stimmen besaßen, während andere keinen einzigen Ton trafen. Als Anna sich das Konzert an jenem Abend anschaute, wusste sie, dass sie mit ihrem Gesang alle anderen Frauen, die sie an jenem Abend hörte, in den Schatten stellen konnte, und sehnte sich danach, ihre Sangeskünste einmal unter Beweis stellen zu können.
Tina erzählt: „Ich hörte Ike Turner zum ersten Mal und ich sah Ike Turner auch zum ersten Mal. Und wollte wirklich lange mit ihm singen, aber ich sah einfach nicht danach aus.“ (16)
Ike Turner hatte nicht nur den Ruf, ein großartiger Musiker und ein versierter Talentscout zu sein, er war auch für seine notorischen Gewaltausbrüche und sein leicht erregbares Temperament bekannt. „Er hatte einen schlechten Ruf und war als ‚der pistolenschwingende Ike Turner‘ bekannt“, so Tina. (5)
Doch das schreckte sie nicht ab. „Ich war ein Fan. Oder, na ja, wurde zu einem, nachdem ich seine Show und seine großartigen Musiker gesehen hatte. Sie brachten die Bude echt zum Toben. Es war unglaublich“, verrät sie. (16)
Als sie diesen Möchtegern-Sängerinnen dabei zuschaute, wie sie ihren kurzen Moment der Berühmtheit beim Singen im Scheinwerferlicht erlebten, brachte dies Anna dazu, sich nach einer Gelegenheit zu sehnen, Ike Turner zu zeigen, wie gut sie singen konnte. „Ich wollte nach oben zu diesen Typen“, erinnert sie sich lebhaft. „Sie brachten die Leute zum Tanzen. In dem Club war die Hölle los. Mit dieser Energie musste ich da rauf.“ (5)
Anna war sofort ein begeisterter Fan von Ike Turner & The Rhythm Kings, und fast jeden Samstagabend gingen sie, Alline und ihre Freundinnen zuerst in den Club „D’Lisa“ und danach in den Club „Manhattan“. Sie besuchten so viele Konzerte, dass sich die beiden Bullock-Schwestern mit einigen Mitgliedern der Band anfreundeten. Alline begann sogar irgendwann eine Beziehung mit Gene Armstrong, dem Schlagzeuger der Band.
An einem schicksalhaften Abend war es dann soweit: Anna Mae Bullock durfte ans Mikrofon treten. Tina erzählt: „Es ist die Geschichte, wie Ike ein Talent entdeckte. Ich hatte schon vorher zu ihm auf die Bühne gewollt – wollte immer noch unbedingt da rauf, da die musikalische Anziehungskraft einfach zu groß war. Aber ich war eben immer ein sehr dürres Mädchen und passte da nicht so hin, weswegen man mich nie auf die Bühne holte. Und dann war meine Schwester schließlich mit diesem Schlagzeuger zusammen, der sie damit aufzog, dass sie nicht singen konnte. Er gab ihr das Mikrofon und sie reichte es an mich weiter und ich fing an zu singen … und zwar einen Song von B.B. King. Und da erkannte Ike, was in mir steckte.“ (7)
Bei dem Lied, das sie sang, handelte es sich um das aktuelle „You Know I Love You“ von B.B. King. Nachdem er Annas Stimme gehört hatte, war Ike Turner völlig hin und weg. Er war so verblüfft, dass er aufhörte, Orgel zu spielen, von der Bühne ging, zu Anna herüberkam und sie hoch in die Luft hob.
Tina erzählt: „Alle kamen hereingerannt, um nachzuschauen, wer denn das Mädchen war, das da sang. Dann stieg Ike von der Bühne herunter. Er war richtig schüchtern und sagte: ,Ich wusste nicht, dass du wirklich singen kannst!‘“ (6) Dann fragte er sie, welche anderen Lieder sie noch kenne.
Anna sagte ihm, sie beherrsche alle Songs von Willie John und noch einige andere Titel, die gerade im Radio gespielt wurden. Ike nahm Anna mit auf die Bühne und ließ sie einen Song nach dem anderen für sich und das Publikum singen.
„Ich ging zu Ike auf die Bühne und war natürlich sehr aufgeregt. Aber ich bekam das sehr gut hin, denn ich war ja mein ganzes Leben lang Sängerin gewesen“, erinnert sich Tina. (7)
Als Ike sie nach ihrem Namen fragte, antwortete sie: „Anna.“ Da sie so jung und so dürr war, nannte er sie „Little Ann“. Nach dem Konzert, erzählte Ike Anna alles über seine Band und die Probleme, die er mit den Sängern hatte, die die Band verließen, sobald ihre Platten zu Hits wurden. „Mein Problem, little Ann, besteht darin, dass mir die Leute immer meine Songs weggenommen haben“, behauptete er. Von Annas Gesangsstimme war er so beeindruckt, dass er sie darum bat, in relativ regelmäßigen Abständen mit seiner Band zusammen zu singen. Sie war außer sich vor Freude. Dass sie schnell auf der Bühne landete, erklärt sie folgendermaßen: „Ike stand, als ich kam, richtiggehend unter Schock und ließ mich von da an nie wieder los.“ (5)
Warum schnappte gerade Anna sich an jenem Abend so zielstrebig das Mikrofon und wieso war Alline froh, dass sie es weitergeben konnte? Weshalb sang Alline nicht selbst? Als Schwestern hatten sie doch sicherlich ähnliche Stimmen. Tina zufolge hatte sie schon immer dieses Feuer in sich und bei Alline war das eben einfach nicht der Fall. „Manche Menschen haben das von Natur aus und müssen nicht viel dafür tun, aber ich schon, und ich bin froh, dass ich es gemacht habe. Meine Schwester und ich waren total verschieden. Sie war sehr langsam und ich dagegen immer sehr schnell.“ (12) Annas eigenes Talent war etwas, das tief in ihrem Innern steckte, und es war einzigartig. „Ich begann dann, an den Wochenenden regelmäßig mit ihnen zu singen. Da ging ich noch zur High School“, erzählt Tina. (7)
Jedoch war das alles nicht ganz so einfach. Natürlich nahm Anna sein Angebot an, wusste aber, dass ihre Mutter ausrasten würde, wenn sie erfuhr, dass ihre Tochter mit dem berüchtigtsten, als Weiberheld verschrieenen Musiker in ganz East St. Louis zusammen sang. Eine kurze Zeitlang schaffte Anna es, das alles vor ihrer