Lernen S' Geschichte, Herr Reporter!. Ulrich Brunner. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Ulrich Brunner
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Социология
Год издания: 0
isbn: 9783711052889
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Brief abgeschickt. Ähnliches berichten auch andere Mitarbeiter aus dem Umfeld Kreiskys. Die Wut Kreiskys hatte natürlich nur vordergründig mit meinen Interview-Fragen zu tun. Kreisky war erbost, dass Bundeskanzler Fred Sinowatz den von ihm eingesetzten Finanzminister Herbert Salcher durch Franz Vranitzky ersetzt hatte. Die Ankündigung Vranitzkys, die Schuldenaufnahme zurückzufahren, konnte Kreisky nur als Kritik an seiner Politik verstehen. Statt Vranitzky bekam allerdings ich die Hiebe.

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      Der erboste Brief war der letzte Kontakt des Alt-Bundeskanzlers zu mir. Vorher hatte ich Kreiskys politische Tätigkeit von seiner Wahl zum Parteivorsitzenden 1967 bis zu seinem Ausscheiden aus der Politik 1983 als Journalist begleitet – mit vielen Gesprächen und Interviews für Zeitungen und für das ORF-Fernsehen. Der Beruf des Journalisten war mir allerdings nicht in die Wiege gelegt worden, es war vielmehr ein steiniger Weg dorthin.

      MEIN WEG ZUM JOURNALISMUS

      Ich wuchs im niederösterreichischen Weinviertel in einer sozialdemokratischen Familie auf. Trotz sehr guten Lernerfolgs in der Volksschule konnten mir meine Eltern nicht den Besuch eines Gymnasiums ermöglichen. Zu dieser Zeit gab es nicht einmal in der Bezirkshauptstadt eine Höhere Schule. Da war es noch ein Glück, dass ich nach der Hauptschule den Beruf des Schriftsetzers erlernen konnte. Damit hatte man einen Bezug zur Schrift, die mir später den Einstieg in den Beruf des Journalisten erleichterte. Nach der Schriftsetzerlehre in einer kleinen Druckerei wechselte ich 1956 in den im Eigentum der SPÖ stehenden Vorwärts-Verlag. Das Gebäude mit der markanten Außenfront war eine wichtige Station in meinem beruflichen Werdegang. Später sollte ich erfahren, dass Bruno Kreisky dazu einen ganz anderen Bezug hatte, einen politischemotionalen, der in seine Jugend führt.

      Für Sozialdemokraten war dieses Gebäude ein symbolträchtiger Ort. Bis 1934, als das Dollfuß-Regime die Sozialdemokratische Arbeiterpartei (SDAP) verbot und deren Besitztümer enteignete, war in diesem Gebäude im 5. Wiener Gemeindebezirk außer der Druckerei auch die Parteizentrale der SDAP untergebracht. Bei den ersten allgemeinen Wahlen für Männer im cisleithanischen Teil der Monarchie im Jahr 1907 (Frauen durften erst 1919 wählen) waren die Sozialdemokraten als zweitstärkste Kraft hervorgegangen. Dieser Erfolg veranlasste die Parteileitung, ein eigenes Redaktions- und Verlagsgebäude für die Arbeiter-Zeitung zu errichten und sie erwarb ein Zinshaus in der damaligen Wienstraße 89a, die 1911 in Rechte Wienzeile umbenannt wurde. Schüler des Stararchitekten Otto Wagner adaptierten das Zinshaus zum Sitz der Parteizentrale und als Redaktionsgebäude. Eine damals hochmoderne Druckerei wurde im Innenhof neu errichtet. Die heute noch erhaltene Außenfassade erhielt eine imposante Uhr am Giebel des Gebäudes, die von zwei Steinfiguren des Bildhauers Anton Hanak umrahmt wird. 1910 bezogen das Parteisekretariat, das Frauenzentral-Komitee, die Gewerschaftskommission und 200 Angestellte der Verlags- und Druckereianstalt Vorwärts das Gebäude.

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      Der Vorwärts-Verlag, jahrzehntelang »Herz und Hirn« der SPÖ, war für Bruno Kreisky ein fast mythischer Ort. Für den Autor dieses Buches begann hier seine Karriere als Journalist.

      Mit dem Aufstieg der SDAP – bei den Wiener Gemeinderatswahlen 1927 wählten 60,3 Prozent sozialdemokratisch – wuchs auch der Platzbedarf. Die Partei kaufte Nachbarhäuser zu, sodass ein zusammenhängender Gebäudekomplex mit rund 3000 Quadratmeter entstand. Fast alle Teilorganisationen der Partei waren nun im »Vorwärts« vereint. Auch der Republikanische Schutzbund, die bewaffnete Wehrformation der Partei, hatte seinen Sitz in der Rechten Wienzeile. In der Druckerei wurden nicht nur die Arbeiter-Zeitung, sondern auch andere illustrierte Massenblätter hergestellt, wie Das Kleine Blatt, Der Kuckuck, die Wochenzeitung Die Frau und die Arbeiter-Illustrierten-Zeitung. Auch die diversen Nebenorganisationen der Partei ließen ihre Mitteilungsblätter dort drucken. Der »Vorwärts« war in dieser Zeit Herz und Hirn der Partei. In den 1930er-Jahren waren schon einige Hundert Menschen im »Vorwärts« beschäftigt.

      Das Dollfuß-Regime konfiszierte nach den Februarkämpfen 1934 den »Vorwärts«, löste ihn aber nicht auf, sondern funktionierte ihn um. Von da an wurden dort Plakate und Zeitschriften des Ständestaates gedruckt. Ein Drittel der Belegschaft wurde gekündigt, die anderen waren als Fachkräfte bei der Weiterführung der Druckerei unverzichtbar. Sie fügten sich, denn Arbeitslosigkeit war damals gleichbedeutend mit Elend. Das Arbeitslosengeld war niedrig und wurde nur für ein halbes Jahr gewährt, danach war man ausgesteuert, es gab keinerlei Unterstützung mehr. Die Ausgesteuerten waren dann auf Almosen und Sozialmaßnahmen der Gemeinden angewiesen. »Die Arbeitslosen von Marienthal« – diese berühmt gewordene Studie von Maria Jahoda, Paul Lazarsfeld und Hans Zeisel aus dem Jahr 1933 hat die dramatischen sozialen Folgen lang andauernder Arbeitslosigkeit festgehalten. Neben dem täglichen Kampf, genug zu essen zu finden, waren vor allem die sozialen Folgen verheerend. Nach Meinung der frühen linken Theoretiker führt Arbeitslosigkeit zu Aufstand und Rebellion. Die auf Anregung von Otto Bauer zustande gekommene Studie bewies das Gegenteil: Arbeitslosigkeit führt zu Apathie, Verlust der Selbstachtung, Hoffnungslosigkeit und Depression. Am Ende stand oft Alkoholismus. Es war nicht zuletzt diese Studie, die dazu führte, dass Kreisky später als Regierungschef Arbeitslosigkeit um jeden Preis vermeiden wollte.

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      Nach dem Putsch im März 1933 regierte Dollfuß diktatorisch. Die Publikationen der SDAP wurden unter Vorzensur gestellt. Die Polizei durchsuchte den »Vorwärts« sehr oft auf der Suche nach Waffen, weil hier auch die Zentrale des Schutzbundes war. Nach den Februarkämpfen 1934 wurden alle Organisationen der Partei aufgelöst.

      Angesichts der Angst, zu den Ausgesteuerten zu zählen, werkten die sozialdemokratischen Fachkräfte des »Vorwärts« also ab 1934 bei der Herstellung jener Produkte, die den Ständestaat als einzig wahre Gesellschaftsordnung priesen. Einige traten auch der Vaterländischen Front bei, einer Sammelbewegung des Ständestaates, die durch Unterorganisationen den politischen Willen der Bevölkerung formte. Das schadete schließlich nicht bei Beförderungen. Das Gros der Arbeiter aber ging in die innere Emigration. Es fehlte auch nicht an Demütigungen: Engelbert Dollfuß war am 25. Juli 1934 bei einem Naziputsch ermordet worden. Zum Jahrestag ein Jahr darauf mussten sich die Mitarbeiter des »Vorwärts« im Innenhof zu einer Trauerkundgebung versammeln: »Trauer für den Arbeitermörder Dollfuß, das war für uns eine schlimme Demütigung«, erinnerten sich einige Teilnehmer noch Jahre später.

      Für Bruno Kreisky war der »Vorwärts« ein geradezu mythischer Ort. Im ersten Band seiner Memoiren berichtet er, wie enttäuscht er war, als er am 12. Februar 1934, als die bewaffneten Auseinandersetzungen begannen, zum »Vorwärts« marschierte und dort die Tore geschlossen fand. Die Schutzbündler hatten die Parteizentrale geräumt. Wie viel dieses Gebäude Bruno Kreisky bedeutete, erhellt eine Episode aus dem Jahr 1967. Nach seiner Wahl zum Parteivorsitzenden der SPÖ fuhr Kreisky von der Stadthalle nicht in die Löwelstraße, wo die Parteizentrale seit 1945 untergebracht war, sondern in den »Vorwärts«. Er steuerte auf das Zimmer zu, in dem früher das Idol seiner Jugend, der intellektuelle Führer der österreichischen Sozialdemokratie Otto Bauer, gesessen war. AZ-Chefredakteur Franz Kreuzer arbeitete dort nach seinem Leitartikel noch an einer Glosse. Kreisky grüßte und trat schnurstracks an Kreuzer vorbei in den kleinen Nebenraum, in dem einst Otto Bauer gesessen war, wenn er seine Artikel geschrieben hatte. Zur Erinnerung hing dort ein großes Bild von Otto Bauer in einem dunklen Silberrahmen. Kreisky blieb allein im Raum, stand etwa fünf Minuten vor dem Bild seines Vorbilds. Franz Kreuzer hat diesen Besuch Kreiskys so interpretiert: »Er, der immer Chefredakteur der Arbeiter-Zeitung und Parteiführer werden wollte, fühlte sich als Weiterführer von Otto Bauers Werk und erwies ihm seine Referenz«.

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      Zwei Trauerkundgebungen im Innenhof des »Vorwärts«, wie sie unterschiedlicher nicht sein können. Das obere Bild zeigt die Trauerfeier für den langjährigen Chefredakteur der