Lernen S' Geschichte, Herr Reporter!. Ulrich Brunner. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Ulrich Brunner
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Социология
Год издания: 0
isbn: 9783711052889
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Sozialdemokratie

       Die Angst vor dem Antisemitismus

       Die Wiesenthal-Affäre

       Parallelen zwischen Kreisky und Rathenau

       Kreiskys Humor

       Kreiskys jüdische Identität

       Das Ende der Ära Kreisky

       Das Mallorca-Paket

       Der schwerkranke Kreisky

       Kreisky im Alter

       Der Narzisst

       Das Leiden von Politikerkindern

       Das Ende

       Epilog

       Mein Abschied von der SPÖ

       Postskriptum

       Bibliografie

       Personenregister

       Zeittafel

       Bildnachweis

       VORWORT

      2020 ist es 50 Jahre her, dass Bruno Kreisky die erste SPÖ-Alleinregierung der Zweiten Republik gebildet hat, vor 30 Jahren ist er in einem Staatsakt zu Grabe getragen worden. Er war gemeinsam mit Willy Brandt und Olof Palme eine der großen Gestalten der Sozialdemokratie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Diese Parteiführer stehen für das goldene Zeitalter der Sozialdemokratie, die im Positiven wirkmächtigste politische Bewegung des 20. Jahrhunderts. Ein Blick zurück lässt den Niedergang der Sozialdemokratie umso deutlicher hervortreten.

      Die Sozialdemokratie droht heute an einer Gemengelage zu scheitern, die nicht leicht aufzulösen ist. Hauptursache ist wohl die Globalisierung, also der freie Warenverkehr, dem in den letzten Jahren auch ein ziemlich unkontrollierter Menschenverkehr durch Migration und Asyl folgte. Der freie Warenverkehr hat schon länger zu einem schleichenden Wohlstandstransfer von den entwickelten Ländern in Entwicklungs- und Schwellenländer geführt. Das begann schon ab 1960, als die Textilindustrie nach Asien übersiedelte, dann folgte die Fotoindustrie, wofür in Österreich beispielhaft der Niedergang des Radio- und Kameraherstellers Eumig steht. Mit dem Zusammenbruch des kommunistischen Imperiums 1990 hatten westliche Konzerne plötzlich gut ausgebildete Industriearbeiter vor der Haustür, die billiger waren als einheimische Fachkräfte. Also wanderten wieder ganze Branchen ab. Eigentlich hätte die Abwanderung ganzer Industriezweige zu einem geringeren Einkommen der arbeitenden Menschen in den westlichen Industrieländern führen müssen. Das wurde aber durch neue Staatsverschuldung abgemildert.

      Von ihrem programmatischen Anspruch her hätte die Sozialdemokratie Verständnis dafür zeigen müssen, dass auch Menschen in anderen Ländern Wohlstand haben wollen – und dass dies zum Teil auf Kosten der westlichen Welt gehen wird. Es wäre nicht einfach gewesen, das den Wählern zu erklären. Es ist erst gar nicht versucht worden. Noch schwieriger ist es, den eigenen Wählern zu vermitteln, dass Menschen als Migranten oder Flüchtlinge hierherkommen, weil in ihren Heimatländern der Aufbau eines demokratischen Wohlfahrtstaates gescheitert ist – durch Religion, Tradition und übergroßes Bevölkerungswachstum.

      Diese Menschen kommen mit Wertvorstellungen, die in ihren Heimatländern genau zu jenen Zuständen geführt haben, vor denen sie emigriert oder geflüchtet sind. Sie legen diese Wertvorstellungen aber mit dem Erreichen Europas nicht ab. Dies führt zu Konflikten im Zusammenleben mit Einheimischen, die die sozialdemokratischen Parteien gröblich unterschätzt haben. Das Entstehen von Parallelgesellschaften, die Probleme in den Schulen, vor allem mit Kindern aus moslemischen Familien – das alles wurde weitgehend ignoriert. Die SPÖ stellte sich zum Migrationsthema zu lange tot. Dass die SPÖ keine klare Haltung in der Migrationsfrage entwickelt hat, hängt wohl mit der Angst vor einer Spaltung der Partei zusammen. Eine linke Minderheit steht für Verklärung von Multikulturalität, die Mehrheit findet den Anteil der Ausländer zu hoch, plädiert für geschlossene Grenzen. Die einen sehen Zuwanderung aus anderen Kulturen als Bereicherung, vor allem Unterschichten empfinden die Einwanderer als Konkurrenten am Arbeitsmarkt und um Sozialleistungen. Da sich die SPÖ nicht entscheiden kann, rinnt sie nach allen Seiten aus: die Multikulti-Fans zu den Grünen, die Migrationskritiker zur Kurz-ÖVP, zur FPÖ. Ein ähnliches Bild zeigt sich in der Klima-Debatte, wo die SPÖ viel zu spät reagiert hat.

      Die SPÖ steht heute vor einer völlig neuen Situation. Früher bestand die Gesellschaft aus Klassen. Die SPÖ wurde grosso modo von den Arbeitern gewählt, die ÖVP von Bauern, Unternehmern und Beamten. Ex-Nazis aus allen Schichten wählten VdU, dann FPÖ. Kreisky war der erste SPÖ-Vorsitzende, der dies durchbrochen hat, indem er der SPÖ fernstehende Wähler einlud, »ein Stück des Weges mit der Sozialdemokratie zu gehen«. Die alte Klassengesellschaft gibt es heute nicht mehr. Heute definieren sich die Menschen nach ihrer Lebenswelt. Die SPD-nahe Friedrich-Ebert-Stiftung hat in einer großen Untersuchung festgestellt, dass die Gesellschaft in viele Milieus zerfällt: sozial Engagierte, verdrossene Kleinbürger, leistungsorientierte Liberale, politikferne Einzelkämpfer, antimoderne Konservative, Hedonisten, desillusionierte Abgehängte usw. Alle diese Gruppen sind von einer Partei allein nicht mehr ansprechbar – jedenfalls nicht von einer linken. Rechte Populisten haben es da leichter.

      Selbst wenn man in alten Klassenkategorien denkt, hat die Sozialdemokratie schlechte Karten. Die Zahl der Arbeiter ist durch Computerisierung und Digitalisierung drastisch gesunken. Dazu kommt, dass viele hier in Österreich tätige Arbeiter nicht wählen dürfen, weil sie ausländische Staatsbürger sind. Die Wandlung der Arbeitswelt hat außerdem zu vielen neuen Berufsbildern geführt, die nicht eindeutig einzuordnen sind. Für jene, die als Ein-Personen-Firmen arbeiten, fühlt sich die Sozialdemokratie nicht wirklich zuständig.

      Viele, die ihren Aufstieg den von der Sozialdemokratie geschaffenen Möglichkeiten verdanken, sind zu anderen Parteien abgewandert. Manche sind in der SPÖ geblieben und irritieren mit ihren Porsches und Rolex-Uhren die Arbeiterschaft. Didier Eribon hat mit seinem Bericht Rückkehr nach Reims geschildert, wie das in Frankreich abläuft. Der linke Bohemien kehrt nach Jahren in Paris zu seiner Familie in Reims zurück und muss feststellen, dass alle Verwandten, die früher kommunistisch gewählt haben, jetzt ins rechte Lager übergelaufen sind. Arbeitslos und am Arbeitsmarkt in Konkurrenz mit nordafrikanischen Einwanderern, leben sie ohne Hoffnung auf Aufstieg dahin und wählen Le Pen. Es handelt sich um das abgehängte Prekariat. In Deutschland wählt es AfD, in Österreich FPÖ.

      Die Sozialdemokratie hat mit ihren Forderungen über ein Jahrhundert lang mitgeholfen, das kapitalistische Wirtschaftssystem erträglich zu gestalten. Mit dem Erreichen ihrer wichtigsten