Heute sind diese Lieder aufgrund ihres urtümlich tuckernden Rock-Beats bemerkenswert, während ihre laute Resonatorgitarre (heute eher als Dobro geläufig) mit Piano, Bass und Schlagzeug verschmolz. Die Aussicht, Sister Rosetta im Macon City Auditorium zu erleben, war seinerzeit für einen Teenager, der das musikalische Nirwana suchte, so verlockend, dass Richard eine Stelle als Coca-Cola-Verkäufer dort annahm, nur damit er am Bühneneingang warten konnte, bis sie eintraf. Als es so weit war, stapfte er mutig auf sie zu und stimmte „Strange Things“ an. Sie war beeindruckt und lud ihn ein, am Abend mit ihr auf der Bühne zu singen, wofür es herzlichen Applaus gab. Dies sei „das Beste gewesen, was mir je passiert ist.“ Tatsächlich drückte ihm Sister Rosetta anschließend 40 Dollar in die Hand, und obendrein hatte er nun Zugang zum Gebäude, also auch zu anderen Acts. Dazu gehörte auch die große Marion Williams, die an der Spitze der ungeheuer beliebten Gospel-Blues-Truppe Ward Singers stand. Sie gab dem Jungen eines seiner wesentlichen Markenzeichen, wie er sagte: „Sie war diejenige, von der ich das ‚Whoooo!‘ habe.“
1949 galt der 17-jährige Richard gewissermaßen als Kuriosum am Rand des „schwarzen“ Musikgeschehens. Er konnte mit jedem Act jammen, der in einem der städtischen Clubs Station machte. Wenn ihm danach zumute war, sprang er auf die Bühne, auch bei Doctor Nobilio, dem sogenannten „Propheten von Macon“, der einen rot-gelben Umhang und Turban trug, mit einem Zauberstab herumfuchtelte sowie eine gruselige Puppe mit Krallen an den Füßen und Hörnern am Kopf bei sich trug, angeblich ein Kind des Teufels. Außerdem schloss sich Richard für kurze Zeit dem Wanderzirkus Dr. Hudson’s Medicine Show an, dessen Leiter sogar von der Bühne aus Schlangenöl verkaufte. Der Junge kam zum ersten Mal aus Georgia heraus, als man in Florida auftrat. Er kannte nach wie vor nur wenige Lieder, die nicht unter Gospel fielen, konnte aber dafür lauter als jeder andere schreien. Deshalb wurde er für weitere Tourneen engagiert, in deren Verlauf er einfach auf Feldern schlief, weil er sich nicht einmal Zimmer in billigen Absteigen leisten konnte. Unterwegs im Süden lebte man selbst zu besten Zeiten gefährlich.
„Ich wurde grundlos verdroschen“, berichtete er. „Mit Stöcken ins Gesicht geschlagen. Die Polizei hielt mich an und zwang mich, mein Gesicht zu waschen. Ich versuchte immer, mich nicht darüber aufzuregen. Wir kamen in keinem Hotel unter und durften niemandes Toilette benutzen, also machte ich mein Geschäft hinter Bäumen und schlief in meinem Wagen. Ich wusste, dass es etwas Besseres gab und der König der Könige es mir zeigen würde. Ich war Gottes Sohn. Er würde mir den Weg ebnen.“
Und falls nicht Gott, dann Leute, die ihm Unterschlupf gaben. In Fitzgerald, einem Bauernnest in Georgia, hatte die Nachtclubbesitzerin Ethel Wynnes „Erbarmen mit mir“ und gab ihm „Schweineinnereien und -füße zu essen.“ Als dann der Frontmann der Band B. Brown and His Orchestra sturzbetrunken war und es nicht zu einem Auftritt im Etablissement der Frau schaffte, sprang Richard in die Bresche, bevor er zu einer weiteren Tour durchs Hinterland aufbrach – mit derselben Gruppe. Solche glücklichen Fügungen sind es, die Geschichte schreiben. Auf jener Tournee ließ B. Brown ihn als „Little Richard“ auftreten; er hob ihn sogar mit diesem Namen an der Seitenwand des Kombiwagens der Band, der an den Film „The Bingo Long Traveling All-Stars & Motor Kings“ erinnerte, als Mitglied hervor. Das blieb hängen. Und wie das hängen blieb …
Es war sicherlich kein Durchbruch, erdete ihn aber zumindest in der brodelnden „Race Music“-Szene der Nachkriegszeit, in der es ständig lebhafter – und lauter – zuging. Little Richard ließ sich das Wahnhafte gern gefallen. Je häufiger er sich zur Schau stellen konnte, desto besser. Manchmal sang er die Standards oder gab vor, es zu tun, obwohl er nur ein paar Fetzen von „Goodnight Irene“ und „Mona Lisa“ kannte. So zahlte er eben Lehrgeld und trat auf der Stelle, bis er durchstarten konnte. Es ging eindeutig aufwärts, doch er adaptierte weiterhin Allüren anderer Künstler. Ihm dämmerte, dass das Saxofon etwas für Begleitmusiker statt für Sänger war, wohingegen Klaviere nützliche Hilfsmittel sein konnten; man sang, während man einen Tusch auf den Tasten klimperte, erhob sich von der Klavierbank und spielte im Stehen, hüpfte herum und dirigierte die Band. Deshalb heuerte er den lokalen Pianisten Luke Gonder an, der ihm die Grundlagen beibrachte, und entwickelte gewisse Sperenzchen, etwa den Fuß aufs Manual zu legen und eine Hand zum Weiterspielen unters Bein zu schieben.
Darin lag jedoch der Haken, zumindest für Bud. Die Bands und der Inhalt der Jukebox im Tip in Inn beliefen sich strikt auf den Mainstream-Pop und Blues, die beruhigenden Klänge von Duke Ellington, Ella Fitzgerald, Louis Armstrong, den Mills Brothers und Andrews Sisters oder Bing Crosby. Was flippige Sounds anging, waren Blues und Jazz für die Massen – „Take the A-Train“, „Luluʼs Back in Town“, „Boogie-Woogie Bugle Boy of Company B“ – für ihn das Höchste der Gefühle. Wenn sein Sohn in einem Club seiner Konkurrenz auftrat, stellte sich Bud ihn als Teil einer neuen Bewegung übermütiger Bluessänger vor, die alle aufreizende Anzüge trugen, herumzappelten und mit ihren sexuellen Errungenschaften prahlten – der Inbegriff von Teufelsmusik. Dass dieser Teenie ein Wunderkind war, interessierte ihn nicht. Er schämte sich bereits für Richards Respektlosigkeit und hatte schließlich genug davon.
„Weil mein Vater keine ausgefallene Musik mochte und ich mich auch ausgefallen anzog, setzte er mich mit dreizehn Jahren vor die Tür. Er mochte mich nicht, weil ich schwul war, und sagte: ,Mein Vater hatte sieben Söhne, und die wollte ich auch haben. Du hast es versaut, du bist nur ein halber Sohn.‘ Dann schlug er mich, aber ich konnte ja nichts dafür. So war ich einfach.“
In der Tat saß Richard schon seit geraumer Zeit auf der Straße. Er hatte sich mehr oder weniger daran gewöhnt, in jedem Bett und auf jeder Bank zu schlafen, die er finden konnte. An dem Abend, als Bud ihn hinauswarf, verschlug es ihn in eine seiner Stammkneipen im Stadtkern: Miss Annʼs Tic Toc Lounge, betrieben von „Miss“ Ann Howard und ihrem Ehemann Johnny. Er fühlte sich dort unwiderstehlich hingezogen, denn die Kundschaft war … nun ja – jedermann: Schwarze, Weiße, Heteros und Homos (binnen Kurzem wurde Miss Annʼs Macons erste offenkundige Schwulenbar). Wie er sich entsann, stieg er auf die Bühne, erhob seine Stimme, „und die Gäste tickten aus. Ich spielte diesen ,Guitar Rag‘ auf dem Klavier und musste ihn schließlich jeden Abend vier-, fünfmal bringen. Die Besitzer adoptierten mich dann und kauften mir [später] ein brandneues Auto. Ich ging zur Schule, und Ann war viele Jahre lang einfach so zu mir, wie meine Mutter es früher gewesen war. Dann starb Johnny, und ich wurde berühmt, doch sie weigerte sich, Geld von mir anzunehmen. Ich will ihr [immer noch] welches geben, aber nichts da. Sie ist ja selbst Millionärin, aber die beiden waren wirklich lieb zu mir. Ich schlief zwischen ihnen in ihrem Ehebett und werde sie nie vergessen.“
Das größte Lob, das er jemandem aussprach, war den Howards vorbehalten: „Ich glaube, es hat viel mit ihnen zu tun, dass ich Little Richard wurde.“
Nach dem Unterricht kehrte er ins Tic Toc zurück. Vater und Sohn gingen sich gegenseitig aus dem Weg, obwohl sie nahe beieinander wohnten. Richard wusch für ein paar Dollar Geschirr, lungerte herum und drängelte sich in einer Pause ins Abendprogramm, um zur Freude des homosexuellen Publikums einige Lieder zum Besten zu geben. Zudem merkte er sich Ideen für Songs, die er in der Küche zu schreiben anfing, nachdem er bei Fremden am Tisch gesessen und es sich bequem gemacht hatte. Zwei jener Stücke waren noch nicht vollendete Fassungen von „Long Tall Sally“ und „Miss Ann“. Das Erstgenannte bezog sich auf „eine Dame, die ziemlich viel trank und vorgab, erkältet zu sein, wenn sie zu uns ins Haus kam … sie war groß und hässlich. Mann, was für eine hässliche Frau. Sie war so hässlich, dass sich die Leute nach ihr umdrehten, und hatte nur noch zwei Zähne links und rechts neben ihrer Zunge. Noch dazu schielte sie. Wir sagten immer: ,Die lange Sally hat eine flotte Zunge.‘ Ihr Macker hieß John. Wenn man in Georgia unter vielen Menschen aufwächst, nennt man sie Onkel oder Tante, also war dieser Typ unser Onkel John, aber eigentlich mit Mary verheiratet, einem richtig fetten Brummer. Sie saß immer auf der Veranda und aß Wassermelonen … Alle Schwarzen bekamen ihr Gehalt freitags, und man wusste, wenn sich das Wochenende anbahnte, weil dann Whiskey getrunken und gestritten, aber auch gefeiert wurde. Jedenfalls gerieten die zwei mal heftig aneinander, worauf er sich in einem Gässchen versteckte, wenn er sie kommen sah.“
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