Er spürte wie die Instrumentalisten auch, dass sich der Mann mit seiner großspurig überdrehten Art selbst im Weg stand. „Ich hatte von seiner irren Bühnenshow gehört, doch an jenem Tag im Studio war er arg verkrampft. Wahrscheinlich trieb ihn sein Ego an, seine Geisteshaltung herauszukehren. Wenn man wie Tarzan aussieht und wie Micky Maus klingt, funktioniert das einfach nicht … Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Mit dem Material zurück zu Rupe zu gehen war ausgeschlossen, denn ich hatte nichts zu vermarkten. Dabei kostete mich das eine Stange Geld.“
Blackwell und Richard fühlten sich beide niedergeschlagen, als sie gemeinsam mit Lee Allen in dem angesagten Club Dew Drop aufschlugen, um den Blues mit Alkohol zu vertreiben und frische Inspiration zu finden. Und die kam dann zufällig wie ein Blitz aus heiterem Himmel: In dem Club verlor Richard seine Hemmungen. Nachdem er auf die Bretter gestiegen war, woraufhin die Barbesucher vor der Bühne ein Publikum bildeten, befand er sich in seinem Element, setzte sich ans Klavier – oder besser gesagt, blieb daran stehen – und stimmte ein Lied an, das er zwar seit Monaten live spielte, aber nie als für Aufnahmen tauglich erachtet hätte. Die ersten Töne davon waren jene bezaubernden Silben Awop bop a loo mop a good goddamn / Tutti Frutti, good booty.
Dieser Originalwortlaut von „Tutti Frutti“ war ihm während seiner verbummelten Jugend in den Sinn gekommen, als er in der Küche des Greyhound-Busbahnhofs in Macon gearbeitet und beim Aufschreiben der anzüglichen Zeilen – von wegen „guter Hintern“ und „wennʼs nicht passt, nichts erzwingen / du kannst es schmieren, leicht machen“ – in sich hineingekichert hatte. Oben auf der Bühne pfiff er auf sämtliche Anstandsregeln. Er ließ es einfach heraus, und Blackwell staunte. Es war, als würde der Song Richard von der Zurückhaltung befreien, die er im Studio an den Tag gelegt hatte. Er hatte Schmiss, Pep und Witz, die Freude und das Knurren kamen tief aus seiner Seele. Er war ein „Vogel“ der anderen Art mit ausgefahrenen Krallen, unberührt von jeglichen R&B-Maßstäben, nur sich selbst gegenüber Rechenschaft schuldig und nicht kompromissbereit.
Sowie er den ersten Weckruf des Rock ’n’ Roll gehört hatte, öffnete ihm das Stück den Seiteneingang in den R&B, wo das Tempo erhöht wurde. Richard selbst sollte Rockmusik eines Tages auf „einfach schnell gespielten Rhythm ’n’ Blues“ herunterbrechen. „Tutti Frutti“ versinnbildlichte demnach von seiner pompösen Eröffnung an, die direkt in hämmernde Piano-Triolen überging, die Quintessenz des neuen Standards. Bumps, der hingerissen war, will gesagt haben: „Wow! Genau das will ich von dir, Richard. Das ist ein Hit!“
Allerdings ist im Rock, der hier wieder einmal als Metapher für das Leben selbst herhält, nicht alles so leicht. Es gab einen Haken: Die offensichtlich obszönen Lyrics mussten behutsam entschärft werden, doch Bumps lag richtig. Goldrichtig. Der Song basierte auf Rhythm ’n’ Blues, Jazz und Bebop, doch sein Beat war stärker, und der Text richtete sich an Teenager, die sich eine neue kulturelle Identität aneignen mussten – und traf so sehr ins Schwarze, dass man behaupten darf, Little Richards Aufnahme von „Tutti Frutti“ sei faktisch die Geburtsstunde des Rock ’n’ Roll gewesen.
„Wohin du auch schaust … Ich bin der schöne Little Richard aus Macon in Georgia. Otis Redding stammt bekanntlich von dort, James Brown auch … Ich sah am besten aus, also verschwand ich zuerst. Ich bin das hübscheste Küchenutensil, jawohl.“
– Little Richard, 1970
Als Little Richard geboren wurde, meinte es das Schicksal sogleich gut mit ihm, denn es ließ einen kleinen bürokratischen Irrtum durchgehen: Am 5. Dezember 1932 füllte eine Schwester in einer Klinik in Macon im US-Bundesstaat Georgia seine Geburtsurkunde aus, verstand aber den Namen nicht richtig, den seine Eltern Charles und Leva Mae Penniman für ihn ausgesucht hatten – „Ricardo Wayne Penniman“ –, und trug stattdessen „Richard Wayne Penniman“ ein. Im Nachhinein fanden die Eheleute, dass Richard ohnehin besser klang als Ricardo, und beließen es dabei. Ohne diesen Augenblick der Nachsicht hätte der Junge den Rock ’n’ Roll womöglich als Little Ricardo umkrempeln müssen.
Charles, der allseits „Bud“ genannt wurde, und seine junge Frau, die er geheiratet hatte, als sie vierzehn war, hatten schon einen Sohn und eine Tochter. Richard Wayne fand sein Zuhause als ihr drittes Kind im Stadtbezirk Pleasant Hill von Macon, 90 Meilen entfernt von Atlanta im Herzen Georgias. Ihre strategisch günstige Lage hatte die Stadt im Bürgerkrieg zum Hauptversorgungsdepot der Konföderierten gemacht. Sorgfältig gepflegte Reste von Baumwollplantagen aus der Vorkriegszeit prägten das Landschaftsbild und zogen während der Wiederaufbauphase viele ehemalige Sklaven als Teilpächter an. Macon brüstete sich, die „schönste und geschäftigste Stadt Georgias“ zu sein, ein Zeugnis von bürgerlichem Stolz an einem Ort, wo Rassentrennung und gelegentliche Lynchmorde ebenso zur Wirklichkeit gehörten, wie Integration real praktiziert wurde, was man täglich im Stadtzentrum erkennen konnte. Dort hielten tüchtige Schwarze ein pulsierendes Gewühl aus Nachtclubs und Kneipen am Laufen, aus dem eine lebendige Musikszene entstand, die einige der größten Talente des Jahrhunderts hervorbringen sollte.
Die Pennimans wohnten ein paar Meilen weiter nördlich in einem schmalen eingeschossigen Haus mit gelber Fassade und der Nummer 1540 an einer Haarnadelkurve, wo die Fifth Avenue in die Middle Street mündete. Kein Auswärtiger hätte die unbefestigten Wege von Pleasant Hill komfortabel genannt, doch die Bewohner empfanden sie so – als Straßennetz mit Vorstadtflair und grünen Bäumen, wo man saubere Luft atmen konnte und die Rasenflächen gemäht waren.
Little Richard bemerkte zu seiner dortigen Zeit als Heranwachsender: „Wir waren weder eine arme noch eine reiche Familie.“ In Not geriet sie zu keiner Zeit. Dafür sorgte Bud, der die Hände nie in den Schoß legte. Er war kein gebildeter Mensch – sein Frau kam hingegen aus wohlhabenden bildungsbürgerlichen Kreisen –, aber er hatte sich vorgenommen, erfolgreich zu sein. Er war auch kein Heiliger, eher etwas proletenhaft und schnell aufbrausend, machte aber seinen Herrn Papa stolz, der Pfarrer war, indem er Prediger wurde und seinen Nachwuchs nötigte, ihn zum Sonntagsgottesdienst zu begleiten. Seine Predigten waren temperamentvoll und es fiel ihm leicht, die Gemeindemitglieder zum Stampfen, Schreien und Singen zu bewegen: eines der ersten Alltagsrituale, die Richard sofort gefielen.
Bud machte als Steinmetz Überstunden und lieferte während der Zeit der Prohibition zusätzlich Spirituosen von Schwarzbrennern in der Stadt aus. Eine Sünde war dies in seinen Augen nicht, weil er den Fusel ja nicht selbst herstellte. Als harter Alkohol ein Jahr nach Richards Geburt wieder legalisiert wurde, belieferte sein Vater weiterhin Händler, die es vorzogen, keine Steuern auf ihre Ware zu zahlen. Sein Sohn erinnerte sich, das zwielichtige Typen zu ihnen ins Haus kamen, und manchmal hätten Polizisten vor der Tür gelauert. Musik war allgegenwärtig in Macon, selbst die Schwarzbrenner musizierten. Einer von ihnen hockte regelmäßig bei ihnen herum und spielte Waschbrett, und irgendwann hatte Bud, der niemals ernsthaft mit dem Gesetz in Konflikt kam, genug Geld zusammengekratzt, um einen Nachtclub in der Innenstadt zu kaufen, das Tip In Inn. Dabei handelte es sich wie fast überall im Rotlichtviertel an der Fourth Street (sie wurde später zu Martin Luther King Boulevard umgetauft) um ein Lokal mit Ausschank sowohl für Schwarze als auch Weiße. Mit den Einkünften finanzierte der Vater einen schicken Ford Model-T und Luxushaushaltsgegenstände wie Elektroleuchten, worum ihn alle Nachbarn beneideten, die noch Gaslampen benutzten. Die Pennimans konnten sich sogar eine Tagesmutter leisten, die sich mit Leva Mae um die Kids kümmerte, deren Zahl auf zwölf stieg, sieben Jungen und fünf Mädchen.
Richard war recht hellhäutig, wie seine Mom, und seine kantigen Gesichtszüge, die ihm Verwandte mütterlicherseits vererbt hatten, ließen vage an amerikanische Ureinwohner denken. Er war recht auffällig und ungestüm, was Leva Mae verärgerte, die er wiederum vergötterte und für ihre „innere Stärke“ lobte.