Eiserner Wille. Mike Tyson. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Mike Tyson
Издательство: Bookwire
Серия: Sport
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783854456292
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Menschen unterdrücken meiner Meinung nach diese Qualitäten, dennoch schlummern sie in uns. Wir leben in einer zivilisierten Umgebung. Werden wir aber mit einer Situation konfrontiert, in der uns die Intuition eine bestehende Gefahr signalisiert, kommen die Instinkte, die uns die Natur zum Überleben gegeben hat, zum Vorschein. Wenn wir dann nicht in Panik ausbrechen, sondern diese Instinkte unter Kontrolle haben, können wir sie nutzen. Dann werden sie uns nicht nur unmittelbar helfen zu überleben, sondern uns durch dauerhaften Erfolg eine starke Sicherheit geben und ein Fundament, das so kraftvoll ist, dass wir uns mit der Zeit in der Lage sehen, mit nahezu allem fertigzuwerden.“

      „Also sagen Sie Ihrem Boxer, dass die Angst, die er vor jedem Kampf empfindet, normal und gesund ist, und er sich darüber keine Sorgen machen soll?“, fragte Jimmy.

      „Nicht nur das, ich sage ihnen auch vor jedem Kampf, was sie an Erfahrungen sammeln werden. Er wird in der Nacht vor seinem ersten Kampf – sagen wir, es ist ein Amateurkampf – nicht schlafen können. Ich sage ihm: ‚Wenn du am Morgen aufwachst, wirst du denken: Wie in aller Welt soll ich denn kämpfen? Ich habe letzte Nacht nicht geschlafen.‘ Das Einzige, was ich ihm zum Trost sagen kann, ist, dass es seinem Gegner genauso geht. Und so ist es eigentlich ein gerechter Kampf. Zweitens, wenn er sich in seine Ecke stellt und über den Ring hinweg seinen Gegner ansieht, wird dieser Kerl die größte und stärkste Person der Welt sein. Wenn er in der Ecke steht und Lockerungsübungen macht, wird dieser Kerl genauso wie die meisten erfahrenen Kämpfer aussehen, obwohl es sein allererster Kampf ist. In der Fantasie wird der Gegner übermächtig. Aber wenn er sich an die Dinge erinnert, die ich ihm sage, weiß er, dass genau das passieren wird, und dann wird er darüberstehen. Und wenn er das weiß und das auch versteht und sich dieser Situation so stellt, wie ich es ihm lange bevor er in den Ring stieg erklärt habe, ist sein Gegner weniger einschüchternd. Hoffentlich werden ihn einige meiner Worte in diesem Zustand der Angst erreichen, bevor die Glocke läutet.“

      Cus hat etwas aus seiner Zeit in der Army mitgenommen. Ihm wurde ein Taschenbuch mit dem Titel Psychologie für den Kämpfer: Was du über dich selbst und andere wissen musst zum Lesen ausgehändigt. Es wurde vom National Research Council’s Emergency Committee on Psychology herausgegeben. Einige der führenden Psychologen Amerikas hatten ihren Teil dazu beigetragen, darunter Gordon Allport und E. G. Boring von der Harvard University. Das Buch konzentrierte sich auf das Seelenleben eines stinknormalen GIs, nicht auf das der ranghöheren Offiziere, und es war voll von konkreten Informationen darüber, wie man die Moral steigern kann und sich an das Leben in der Army am besten anpasst.

      Das Buch enthielt auch eine offene Diskussion über die Angst. Wenn man es liest, erkennt man, wie es Cus dabei half, seine Theorien über die Angst und die Bedeutung traumatischer Kindheitserfahrungen zu verfeinern. „Die mentalen Gewohnheiten in der Kindheit ziehen sich für gewöhnlich in mehr oder weniger verkleideter Form durch das ganze Leben. Das ist manchmal gut und manchmal weniger gut für den Erwachsenen, je nachdem, was für eine Kindheit er hatte.“ Im neunten Kapitel sprechen die Autoren darüber, dass der Erwerb einer Routine zum Lernerfolg beiträgt. „Keine Handlung wird allein dadurch automatisiert, dass man ihren Ablauf in der Theorie lernt, ohne sie tatsächlich zu üben. Durch die wiederholte Bedienung einer Maschine oder eines Gewehres wird diese Handlung zur Gewohnheit und fast mechanisch ausgeführt.“ Das bildete die Basis von Cus’ Überzeugung, dass das Boxen am besten durch ständige Wiederholungen erlernt werden kann. Und es spiegelt sich auch in Cus’ Trainingsinnovation mit dem „Willie Bag“ wieder, auf die ich später noch eingehen werde.

      Cus ließ diese Unterrichtseinheiten nie theoretisch erscheinen. Er brachte immer seine eigene Lebenserfahrung mit ein und erzählte seinen Schülern, dass auch er seine Erfahrung mit der Angst gemacht hatte. Als er ungefähr vierzehn war, gab es einen Mann in der Bronx, der sich an einsamen Orten versteckt hielt und plötzlich hervorsprang und Leute angriff. Die Zeitungen nannten ihn den Gorilla-Mann. Eines Abends war Cus noch spät unterwegs und er entschied sich, eine Abkürzung über ein verlassenes Grundstück zu nehmen, auf dem das Gras so hoch stand, dass es ihm fast über den Kopf wuchs. Er ging den Weg entlang und sah auf einmal vor sich eine düstere Gestalt. Sie sah aus wie ein Riese mit ausgebreiteten Armen, bereit zum Angriff. Cus war sicher, dass es der Gorilla-Mann war. Sein erster Impuls war, einfach wegzurennen, aber dann beherrschte er sich doch. „Wenn ich jetzt losrenne, werde ich nie mehr fähig sein, diese Abkürzung zu nehmen“, dachte er. Deshalb stellte er sich seiner Angst und marschierte weiter. Und der „Gorilla-Mann“ war nur ein Baum, dessen Äste abgeschnitten waren. In der Dunkelheit sah seine Silhouette aus wie die eines Gorillas. Cus sagte, dies sei der Beweis dafür, dass nichts so schlimm ist wie in der Fantasie. Von da an sagte er sich jedes Mal, wenn er in seinem Leben mit Schwierigkeiten konfrontiert wurde: „Es ist nur ein Baum auf meinem Weg.“

      Als Cus zwanzig war, hatte er seinen ersten Kampf in einer Sporthalle. Er hing in der Halle ab und schlug gegen die Sandsäcke, was einen anwesenden Manager sehr beeindruckte. Er fragte Cus, ob er boxen wolle. Dann ließ er ihn mit Baby Arizmendi in den Ring steigen, einem mexikanischen Boxer, der in dieser Sporthalle trainierte. Arizmendi hatte den großen Henry Armstrong zweimal geschlagen! „Während ich wartete, machte ich zum ersten Mal in meinem Leben Erfahrungen mit der Angst im Ring“, erzählte Cus einem Reporter. „Ich verstand damals nicht, was diese Gefühle in mir weckte. Mein Herz pochte. Vielleicht war es Angst, dachte ich, war mir aber nicht sicher. In diesen Ring zu steigen war wie der Gang auf den elektrischen Stuhl.“

      Arizmendi schlug nach allen Regeln der Kunst auf Cus ein, brach ihm die Nase und verpasste ihm eine Gerade, die sein gesundes Auge zuschwellen ließ. Als er Cus fragte, ob er bereit für eine zweite Runde wäre, stellte der sich seiner Angst und sie boxten weiter. Am Ende kam Baby zu Cus herüber. „Was für ein zäher Affe du bist!“, beglückwünschte er ihn. Es war die Anerkennung dafür, dass Cus gelernt hatte, seine Angst zu besiegen. Cus machte seinen Boxern am Beispiel dieses Erlebnisses klar, dass sie sich niemals dafür schämen mussten, Angst zu haben, dass es normal war, Furcht zu empfinden.

      Cus erzählte mir, dass er in all den Jahren im Boxgeschäft nur zwei Boxer gesehen hätte, die völlig furchtlos waren. Der erste war ein Taubstummer, den Cus managte und der regelmäßig fürchterlich verdroschen wurde. Der andere Kerl war ein jüdischer Boxer namens Artie Diamond. Diamond war an seinem ersten Tag als Zeitungsverkäufer entdeckt worden, als er einen älteren Mann zusammenschlug, der die Ecke als Standplatz hatte, die Artie haben wollte. Nach einem Abstecher in die Navy kam Artie zurück und begann unter Cus zu trainieren. Dass Artie kein normaler Bursche war, wurde Cus bewusst, als der Typ sich zu seinem ersten Amateurkampf auf den Weg in den Ring machte. „Ich steige in den Ring und halte das Seil nach unten. Plötzlich höre ich einen Hund knurren“, erzählte Cus einem seiner Schüler. „Ich frage mich: Wer zum Teufel hat hier einen Hund? Und ich schaue mich um und sehe Artie unter dem Seil hindurchschlüpfen, knurrend, mit Schaum vor dem Mund.“ Die Glocke ertönte und Artie stürmte auf seinen Gegner los und schlug wie wild auf ihn ein.

      „Artie wurde auch verprügelt und bewies, dass er keine Angst hatte“, sagte Cus. „Nicht, dass er ein Macho gewesen wäre. Er war einfach ein Verrückter.“ Trotz einer 18:2-Amateurbilanz, inklusive fünfzehn ordentlicher K. o.s, zwang Cus Artie dazu, sich nach einigen Jahren als Profi mit zweiundzwanzig zur Ruhe zu setzen, weil er zu viele unnötige Strafen kassierte. Ein paar Wochen später klauten Artie und ein paar Freunde in der South Bronx einen gepanzerten Truck. Im Kampf schoss Artie dem Wachmann in den Kopf, sodass dieser sein Leben lang gelähmt blieb. Er wurde zu fünfzehn Jahren Haft verurteilt, von denen er mindestens siebeneinhalb in Sing Sing absitzen musste. An seinem ersten Tag im Gefängnis spazierte Artie durch den Hof und rauchte eine Zigarre, als ein großer schwarzer Häftling auf ihn zukam.

      „Hey, komm mal her, du Schönling“, zischte der Schwarze.

      Artie konnte nicht glauben, dass er mit ihm redete.

      „Weißer Junge, ich rede mit dir.“

      „Wie kann ich dir helfen?“, fragte Artie und stellte sich dumm.

      Der Schwarze zog Artie zu sich und sagte ihm, er würde einen angenehmen Aufenthalt haben, mit Zigarren und geschmuggelten Lebensmitteln, so viel er wollte – so lange er ihm sexuell zu Diensten sei. Artie nickte zustimmend und nahm den Kopf des Schwarzen in seine Hände. Er beugte sich