Cus behauptete, er hätte in der Army nichts gelernt, weil er die Selbstdisziplin bereits gehabt hatte. Während ich bei ihm wohnte, hatte ich einmal die absurde Idee, dass ich vielleicht zur Army gehen sollte.
„Bist du verrückt?“, schrie er. „Du willst, dass das Militär für dich denkt? Du willst alles tun, was sie sagen? Du willst zurück in die Sklaverei?“ Das war das letzte Mal, dass ich ihm gegenüber diese Idee erwähnte.
Cus galt stets als einer der ersten Trainer, die sich auf die Psychologie ihrer Boxer konzentrierten. Im Laufe seiner Karriere sagte er öfters, dass das Boxen zu fünfzig, sechzig und manchmal sogar fünfundachtzig Prozent eine mentale Angelegenheit sei. Er begann schon früh, psychologische Verhaltenstheorien zu entwickeln, die beim Boxen angewandt werden konnten. Zunächst beschäftigte er sich mit den Arbeiten von Sigmund Freud. „Die Leute sagten immer, ich würde Freud lesen, aber alles, was ich jemals von ihm gelesen habe, waren zehn Kapitel aus einem dieser Taschenbücher, das ich irgendwo fand“, sagte er Sports Illustrated. „Ich las diese zehn Kapitel, und dann wurde es immer technischer, deshalb legte ich das Buch weg.“ Freud „sagte mir nichts, was ich nicht schon wusste“, sagte er einem anderen Reporter.
Cus begann mit meinem psychologischen Training erst richtig, nachdem ich in das Haus eingezogen war. Als Erstes gab er mir ein Buch von Peter Heller mit dem Titel „In This Corner …!“ Es war ein großartiges Buch, weil es Interviews mit zeitlos vorbildlichen Kämpfern enthielt. Cus war der Meinung, man solle es unbedingt lesen, weil sich all die Unsterblichen in diesem Buch ihre Ängste eingestanden. Die Angst zu beherrschen und sie für dich arbeiten zu lassen, war ein Eckpfeiler von Cus’ Lebensphilosophie. Giganten wie Jack Dempsey waren ebenso ängstlich wie ich. Er war Krebs wie ich, sehr emotional. Aber wenn er in den Ring stieg, hättest du niemals geglaubt, dass er ein ängstlicher Kerl war. Tief im Inneren hielt er sich für einen Feigling, genauso, wie es mir geht. Aber wenn er in diesen Ring stieg, war er die Unbeugsamkeit in Person. Das ist doch was, oder?
Auch Henry Armstrong war, wie Dempsey, während der großen Wirtschaftskrise ein Vagabund gewesen. Sie sprangen auf Züge auf, kamen in eine andere Stadt, kämpften ums Überleben, wurden zusammengeschlagen, und so lernten sie zu kämpfen. Armstrong stand morgens auf und lief fünfzehn Meilen zur Arbeit und danach wieder fünfzehn Meilen zurück nach Hause, und dann trainierte er. Wisst ihr, was sein Job war? Nägel in Eisenbahnschienen schlagen, acht Stunden am Tag. Mann. Er war der Einzige, der drei Weltmeistertitel gleichzeitig hatte, drei von zwölf. Cus war der Meinung, er sei der Inbegriff der Entschlossenheit und Willenskraft gewesen und hätte so die Kampfmoral seiner Gegner zunichtegemacht.
Aber das beste Beispiel dafür, was Angst wirklich bedeutet, war die Geschichte von Willie Ritchie. Durch seine Geschichte bekam ich Nerven wie Drahtseile. Ritchie war ein polnisches Leichtgewicht, der 1912 die Meisterschaft gewann. Er kämpfte gegen einen Kerl, der etwas größer war. Der Kampf war hart und wurde als unentschieden gewertet. Der Veranstalter klatschte Willie auf den Rücken und sagte: „Hey, du hattest Glück heute Abend, Junge. In zwei Wochen gibt es eine Revanche.“ Ritchie war starr vor Schreck. Er war der Meinung, das Unentschieden wäre ein Geschenk gewesen, denn der Kerl hatte ihn richtig verprügelt. Von da an hatte er solche Angst, dass er eine Stunde brauchte, um seine Scheißschuhe zu binden, seine Shorts anzuziehen und in die Sporthalle zu gehen, um zu trainieren. Er schwitzte beim Wiegen. Er konnte nicht essen, er war krank vor Angst, umgebracht zu werden. Als er gerade beim Wiegen war, kam der Trainer seines Gegners an, klatschte ihm auf den Rücken und sagte: „Okay, letztes Mal haben wir es dir leicht gemacht, heute Abend schlagen wir dich im Nu k. o.“ Ritchie war ein emotionales Wrack, aber er ließ sich seine Furcht nicht anmerken. Er war drauf und dran, den Kampf abzusagen, aber er nahm sich zusammen und stellte sich auf die Waage. Dann wartete er auf den anderen Kerl. Nach ein paar Stunden war klar, dass sein Gegner sich nicht blicken lassen würde. Ritchie bekam das ganze Preisgeld. Er lernte eines daraus: Egal, wie viel Angst er gehabt hatte – und er hatte sich gefürchtet, als ob der Teufel hinter ihm her wäre –, sein Gegner hatte noch mehr Angst vor ihm gehabt. Als ich diese Geschichte las, wurde mir klar, dass ich den Vorteil hatte, zu wissen, wie sich die anderen fühlten – aber sie wussten nicht, wie es in mir aussah. Obwohl ich vor den Kämpfen Angst hatte, dachte ich immer: „Sie haben mehr Angst vor mir als ich vor ihnen.“
Cus gab mir nicht nur dieses Buch, sondern auch etwas, das er „das Gespräch“ nannte. Er spürte, dass die meisten Kids, die Boxer werden wollten, nie gelernt hatten, mit ihren Gefühlen umzugehen. Er meinte, um einen Boxer zu unterrichten, müsse man zuerst seine seelischen Probleme lösen, und zwar auf eine Weise, dass es dem Schüler nicht mehr peinlich ist, so etwas wie Angst zu empfinden. Cus nannte das „die Persönlichkeitsschichten abtragen“. Seine Theorien waren jenen von Wilhelm Reich, einem Schüler Freuds, sehr ähnlich. Reich sprach von der besonderen biologischen Energie eines Menschen, der „Orgonenergie“, die sich im Körper als eine Art Panzer festsetzt. Diese „Panzerung“ müsse angegangen und bearbeitet werden, bis die Energie freigesetzt werden kann. Wenn die Kindheitstraumen und Schamgefühle Schicht für Schicht abgetragen sind, dann bist du bereit für Cus’ Unterricht.
Ich hörte hundert verschiedene Versionen von Cus’ Zugang zur Angst. Aber die Art, wie er in den Sechzigerjahren darüber sprach, als er für ein Video interviewt wurde, das Jim Jacobs produzierte – der übrigens mein erster Manager wurde –, ist besonders gut.
„Wenn ich einen neuen Schüler habe, halte ich ihm als Allererstes einen Vortrag. Und obwohl ich nicht von ihm verlange, dass er sich komplett alles merkt, was ich ihm sage, erwarte ich doch von ihm, dass er sich nach dem Wiederholen der Lektion in der passenden Situation an meine Worte erinnert und sich deshalb von der Situation, mit der er konfrontiert ist, nicht einschüchtern lässt“, sagte Cus. „Die Lektion über die Angst lautet ungefähr so: Alle Menschen haben Angst. Angst zu haben ist eine ganz normale, gesunde Sache. Wenn jemand keine Angst hätte, müsste ich ihn zu einem Psychiater schicken, um herauszufinden, was mit ihm nicht stimmt. Die Natur gab uns die Angst, um zu überleben. Und natürlich ist die Angst unser bester Freund. Ohne die Angst würden wir alle sterben, wir würden vielleicht einen Fehler machen oder etwas völlig Dummes tun, was unseren Tod verursachen oder uns zum Krüppel machen könnte. Aber Angst ist auch etwas, was kontrolliert werden muss. Ich vergleiche sie immer mit dem Feuer. Angst muss, wie ein Feuer, beherrscht werden, denn wenn sie einmal außer Kontrolle gerät, kann sie wie ein Feuer alles um dich herum zerstören, alles, nicht nur den einzelnen Menschen. Aber wenn du die Angst wie ein Feuer kontrollierst, kann sie dir zugutekommen. Ohne Feuer hätten wir nicht die Zivilisation, die wir heute als selbstverständlich betrachten. Aber der Kämpfer, der seine Angst beherrscht, kann in einer Weise funktionieren, zu der er vorher nicht ansatzweise fähig war. Egal, wie hässlich ein Mensch ist, egal, ob er badet oder nicht – wenn er mein Leben rettet, wenn er immer da ist, wenn ich in Schwierigkeiten stecke, dann vergesse ich, wie abstoßend er äußerlich ist. Ich sehe ihn als meinen Freund und akzeptiere ihn als solchen. Nun, das ist die Bedeutung von Angst. Die Angst ist dein Freund, und die Natur gab uns die Angst, damit wir überleben. Ich ziehe gern das Beispiel eines Hirsches heran, der eine Lichtung überquert und in den Wald geht. Sein Instinkt sagt ihm, dass in den Bäumen Gefahr lauert, vielleicht in Form eines Berglöwen. In dem Moment schütten die Nebennieren Adrenalin in den Blutkreislauf aus, das Herz schlägt schneller und befähigt so den Hirsch zu Höchstleistungen. Mit dem ersten Sprung springt er zehn,