Man bekommt beim Lesen der einzelnen Geschichten eine Ahnung davon, was unser Bundespräsident Steinmeier meint, wenn er sagt, dass einen solchen Umbruch in seiner Wucht und Tiefe, wie ihn alle Ostdeutschen erlebt haben und verarbeiten mussten, kein Westdeutscher nach dem Zweiten Weltkrieg durchgemacht hat.
Auch deshalb ist es gut, was hier aufgeschrieben wurde – vielleicht wächst damit mehr Verständnis füreinander. Es sind zeitgeschichtliche Dokumente von bleibendem Wert.
Matthias Platzeck,
Ministerpräsident des Landes Brandenburg a.D.,
im Februar 2021
Der Ostmann ist anders und will es auch bleiben!
Was man über Ostmänner wissen sollte:
1. Der Ostmann ist durch 40 Jahre DDR geprägt, sein Erfahrungsvorsprung aus beiden deutschen Systemen macht ihn nachhaltig.
Norbert, Jahrgang 1955 | 4 Kinder, verheiratet in zweiter Ehe
Ost: Rinderzüchter, Baugeräteführer, West: Bauunternehmer, Wildtierzüchter
Kraftfahrer, Bauleiter, Haupttechnologe
Ich bin ein ziemlich sozialer Mensch
mit einem Faible für Gerechtigkeit
Ich lebte nicht allzu lange bei meinen Eltern. Sie trennten sich gerade. So kam ich zu meiner Großmutter in ein kleines Dorf bei Magdeburg. Meine Mutter studierte in dieser Zeit an der Universität. Das Dorf hat mich geprägt, die Sehnsucht nach dem weiten Land und nach Stille kommt vielleicht schon aus dieser Zeit. Meine Großmutter war ein einfaches Weiblein, mein Großvater arbeitete im Straßen- und Tiefbaukombinat in Magdeburg. Die Großmutter hatte früher bei der Post die Briefe ausgetragen. Das war nicht mehr notwendig. Sie hatte einen Hektar Spargelfeld, sich vier große Gärten aus irgendwelchen Schrebergärten ergaunert, dazu noch vier alte Häuser erworben, nichts Tolles, alte Bauernhäuser, die sie vermietet hatte. Sie war ein absoluter Spartyp. Mit dem Großvater ging es jeden Tag in die Gärten oder auf die Felder. Bei der Ernte gab's kein Abhauen. Erst nach dem Mittagessen kamen viele Freunde. Eine unbeschwerte Kindheit mit Wäldern und Feldern und Seen. Die enge Beziehung blieb bestehen, auch als ich in Berlin lebte. So fuhr ich in allen Ferien, bis ich 16 oder 17 Jahre alt war, allein mit dem Zug von Berlin-Schöneweide nach Magdeburg. Dort wurde ich abgeholt. Ich war einfach gerne bei meinen Großeltern. Die Tatsache, dass meine Großmutter mich mehr als ihren Sohn denn als ihren Enkel sah, begeisterte meine Mutter sicherlich nicht. Meinen Vater kannte ich nicht. Den lernte ich erst kennen, als ich 28 Jahre alt war. Inzwischen hatte er noch vier Kinder aus verschiedenen Beziehungen und einer Ehe. Nur mit einem Bruder pflege ich engeren Kontakt. Die anderen sehe ich gelegentlich, es ist nett und höflich.
Mein Dorfleben endete abrupt zu Beginn meiner Schulzeit. Diese begann ich in der neuen Familie in Berlin-Adlershof. Ich wusste gar nicht, dass meine Mutter mit einem neuen Mann verheiratet war. Und plötzlich hatte ich eine jüngere Schwester. Das Verhältnis zu meinem Stiefvater war von Anfang an etwas schwierig. Wir fanden nie zueinander. Beide Eltern waren beruflich sehr beschäftigt. Sie bemühten sich um uns. Aber miteinander gespielt wurde nie. Die Arbeit stand an erster Stelle.
Meine Schulzeit war für mich sehr interessant. Ich war zu Anfang ein ganz guter Schüler. Allerdings führte meine Aufmüpfigkeit in der Schule zu großen Konflikten in der Familie, sodass meine Mutter mir antrug, wegen der Neigung zum Land und zur Landwirtschaft einen solchen Beruf zu ergreifen. Dies war mit einem Umzug in ein Internat verbunden. So weit weg zu sein war wohl das Richtige für die ganze Familie. Ich war schon ziemlich renitent. So zog ich in eine kleine Stadt in der Nähe Berlins, um den Beruf des Rinderzüchters oder des Zootechnikers, verbunden mit dem Abitur, zu erlernen. So war die Familienzeit für mich mit 15 Jahren wieder vorbei.
Damit startete 1971 die große Freiheit. Eine wunderbare Zeit war dies in unserem Lehrlingsinternat mit einer Truppe von circa 200 Leuten. Wir wurden gute Freunde und unternahmen gemeinsam unheimlich viel, hatten ausgiebig Spaß, wohnten zusammen, tanzten viel. Wir erlernten einen interessanten, aber körperlich schweren Beruf. Wir 16-Jährigen arbeiteten in Zwölf-Stunden-Schichten. Die Kühe mussten ja regelmäßig gemolken werden. Die drei Jahre flossen schnell dahin. Allerdings hatte ich Schwierigkeiten mit dem Abitur. Mit 18, 19 Jahren wurde Schule zur Nebensache, zumal ich eine wunderhübsche Freundin hatte. So erlebte ich das letzte Vierteljahr vor dem Abitur gar nicht mehr in der Schule. Das führte dazu, dass man mich ausgiebig prüfte. Alle anderen wurden zweimal, ich wurde fünfmal geprüft. Und in Biologie fiel ich durch. Ausgerechnet in Biologie, wo ich vorher sehr gute Noten hatte, und nun wusste ich nicht, wie sich die Farne und Moose vermehrten. Vier Wochen später hat es funktioniert. Bei mehreren Besuchen der Lehrerin konnten wir die Lücken nacharbeiten, sodass ich das Abitur noch ablegen konnte.
Mir war klar, dass Rinderzüchter oder Milchproduzent nichts für mich ist. Das galt vor allem für die Zwölf-Stunden-Schichten, auch Weihnachten und Silvester. Zunächst musste ich aber noch anderthalb Jahre zur Armee. Erst sollte oder wollte ich zum Wachregiment der Stasi. Dann aber nicht mehr, und es gelang mir, mich dort zu entpflichten. Stattdessen wurde ich in die Nähe von Neuseddin eingezogen. Ich war kein guter Soldat, bin sehr oft nachts über den Zaun geklettert und nach Berlin zum Tanzen gefahren. Alles Militärische war mir immer sehr fremd. Ich habe nie verstanden, warum man es zu seinem Beruf machen kann, Leute totzuschießen.
Insofern ist mir der Antifaschismus deutlich näher. Faschisten und Militaristen halte ich mit ihrem politischen Ansatz einfach für schwachsinnig. Nach der Armeezeit kam ich kurz zurück in die Familie, wollte aber nicht mehr zu Hause wohnen. Da meine langjährige Freundin das auch nicht wollte, kamen wir zusammen. Sie wurde schwanger. Mit Kind bekamen wir in Adlershof eine Wohnung. So konnte ich mit 21 Jahren die Familie wieder verlassen. Die erste Ehe war nicht die große Liebe.
Da ich als Rinderzüchter nicht arbeiten wollte, suchte ich mir eine Arbeit auf dem Bau. Ich wurde Bauhelfer bei den großen Kränen. Beim Anhängen großer Lasten wurde ich schwer an der Nase verletzt, als der Kranführer nicht ganz aufmerksam war. Der Bauberuf wurde trotzdem der richtige. Es gab sehr viele Möglichkeiten, sich zu qualifizieren. Das nutzte ich und wurde Baugeräteführer. Bei Ladearbeiten auf dem Gelände des späteren Unfallkrankenhaus Berlin traf ich eine wilde Horde von Kraftfahrern. Die gehörten zum Tiefbaukombinat. Und sie überzeugten mich beim Frühstück, Kraftfahrer zu werden, weil man dort das Doppelte verdienen konnte. Ab 1976 arbeitete ich acht Jahre als Kraftfahrer. Immer öfter kamen leitende Leute auf mich zu und schlugen mir vor, Brigadier und Mitglied der SED* zu werden. Eine Brigade zu übernehmen bedeutete immerhin, 60 Leute in zwei Schichten mit 30 Fahrzeugen zu führen. Die Aufgabe klang interessant, aber zu diesem Zeitpunkt war ich an einer Mitgliedschaft in der SED überhaupt nicht interessiert. Das hätte wahrscheinlich zu Verwerfungen im Freundes- und im Kollegenkreis geführt, weil man so eine Sache kommunizieren muss. Bis dato war ich nicht durch große politische Aktivität aufgefallen. Allerdings war ich immer ein sehr sozialer Mensch. Ich sehe Ungerechtigkeiten sehr deutlich und engagiere mich. Mein soziales Gewissen ist stark ausgeprägt.
Partei- und Betriebsdirektor versuchten mich immer wieder zu überzeugen. Ich fand die sympathisch und ihre Argumente waren so überzeugend, dass ich mich nach bestimmt acht ergebnislosen Werbungsversuchen doch entschloss, die Parteizentrale aufzusuchen und zu sagen: »Okay, ich mache das.« Wenn ich mich entschließe, etwas zu machen, dann aus vollem Herzen und mit Leidenschaft. Wir waren kein einfacher Verein, sondern ein wilder Haufen mit unterschiedlichsten politischen Einstellungen. Mit der Brigadeleitung musste es unbedingt klappen. Die 60 Leute durften keinesfalls weniger Geld verdienen. Nach dem bisherigen System verdienten sie 1.100 Mark. Das klappte aber nur durch Betrug. Man hätte 18-mal sieben Kilometer durch Berlin hin- und herfahren müssen, was in acht Stunden nicht möglich war, aber jeden Tag auf den Zetteln stand. Alle wussten das. Mit meiner Entscheidung, die Brigade zu übernehmen und in die Partei einzutreten, war für mich klar, dass ich diese Methode nicht fortführen würde. Von diesem Tag an wurde nur noch das auf dem Arbeitsschein vermerkt, was wirklich geleistet wurde.