„Wie alt sind Sie, wenn ich fragen darf? Wenn Sie von Ihrem Großonkel sprechen, kommt es mir vor, als überbrückten sie die Zeit bis in den 1. Weltkrieg hinein ohne Mühe. Sie schlagen ein Tagebuch auf und schon sind 100 Jahre wie weggeblasen.“
„Ich bin 66. Jules Bresson wurde 1884 geboren. Bedenken Sie die Zeit: kaum Medien, keine Autos und im Hinterhof einen Stall fürs Schwein und ein Verschlag für die Tauben. Sickergrube und Plumpsklo inbegriffen. Ich bringe alles mit heute Abend.“
„Zeitenwandern, Generationssprünge, Lebensnähe. Marion mag Grenzgänger wie Sie, die längst Vergangenes wieder erlebbar machen. Sie freut sich sehr, Sie heute Abend ankündigen zu dürfen.“
„Danke, Herr Lindenberg. Bis nachher.“
„Aber selbstverständlich.“
Marcel Bresson besuchte die Eisdiele und trank einen Espresso. Sein Skript lag ungeöffnet auf dem Bistrotisch. Lindenberg hatte ihn nachdenklich gemacht, als er über die Wahrheit gesprochen hatte. Jules’ Tagebuch war ein unermesslicher Fundus, aber wegen der teils verlorenen und unkenntlichen Informationen hatte Marcel ein eigenes Skript verfasst. Darin stand seine ganz persönliche Interpretation der Schriften seines Großonkels. Wer kannte die Wahrheit oder würde behaupten, sie zu kennen? Unterhaltung war sein Ziel und zu diesem Zweck vermengte Marcel Fakt und Fiktion auf eine Art, das alles am Ende echt klang. Das war ja der Clou. Er würde also ganz bewusst seinen Zuhörern den Grenzgang zwischen Wahrheit und Unterhaltung überlassen. Sie waren schließlich erwachsen.
Er genoss den letzten kleinen Schluck seines Espressos, trank das dazu gereichte Glas Wasser und schmunzelte, als er der Kellnerin ein ordentliches Trinkgeld in die Hand drückte. Lindenberg ging ihm nicht aus dem Kopf, denn er hatte einen Punkt angesprochen, der ihm unter den Nägeln brannte. Jules schrieb an manchen Stellen in verklausulierter Form, um zu gewährleisten, dass die Wahrheit unsichtbar blieb, für den Fall, sein Tagebuch würde im Lager in falsche Hände geraten. Das hätte Leben kosten können. Marcel Bresson hatte einen besonderen Plan im Gepäck: Durch seine Erzählungen wollte er der versteckten bzw. verklausulierten Wahrheit auf die Schliche kommen.
Jules’ Tagebuch barg ein Geheimnis und um das herauszufinden, ergänzte Marcel die unvollständigen Episoden seines Großonkels mit erfundenen Handlungen. Sein Ziel bestand darin, der Wahrheit durch fiktive Lückenfüller auf die Sprünge zu helfen, um daraus Rückschlüsse auf das Geheimnis ziehen zu können. Sein Erzählabend verfolgte also nicht nur den Zweck der Unterhaltung, sondern diente dem Auffinden eines realen Schatzes, den Jules im Tagebuch als „Beute“ bezeichnet hatte. Bresson träumte davon, in Kürze ein sehr reicher Mann zu sein und mit Marion um die ganze Welt zu reisen.
Der Deserteur
Eine funzelige Gaslaterne beleuchtete das Innere der Baracke 8. Jules Bresson aus Les Bon Villers machte seine Runde zwischen den Betten und schaute nach, dass jeder seine Holzschuhe unters Bett gestellt hatte, damit die Gänge frei waren und keine unlauteren Spielchen betrieben wurden. Knobeln und Kartenspielen waren zur Nachtzeit verboten. Bresson assistierte dem deutschen Buchhalter, mit anderen Worten: Er machte die Drecksarbeit.
Es war seine Aufgabe, Kranke und Verletzte während der Nacht ruhig zu stellen, nicht etwa um die Ruhe der anderen Insassen zu gewährleisten, sondern Ruhe für die Wärter zu schaffen. Die schliefen nämlich in einer angrenzenden Baracke. Das Schreien und Stöhnen konnte penetrant auf die Nerven gehen. Jules schleppte die schweren Fälle mit einer Art Schubkarre in eine Abstellkammer für Pferdegeschirr und Putzmittel. Dort lag der Kandidat, bis Hilfe kam oder er verstarb. Selten, dass sich einer erholte. Morphium und Antibiotika gab’s nicht.
Je nachdem wie sich die Nacht gestaltete, war Jules am nächsten Morgen entweder ausgeschlafen oder hundemüde. Er hätte sich lieber die Zunge abgebissen, als zu meckern, denn er war von der Fronarbeit freigestellt worden, um dafür die Baracke in Ordnung zu halten. Er hatte Zugang zum Geräte- und Werkzeugschuppen und arbeitete selbstständig. Dach, Wände und Fenster standen unter seiner Obhut. Jede Baracke hatte seinen eigenen Buchhalter-Assistenten und alle trugen einen grauen Kittel.
Jules hatte die beiden Neuen, den Rotschopf und den quasselnden Franzosen, seit ihrer Ankunft im Visier und hoffte, sie würden ohne seine Intervention die Nachtruhe einhalten.
Liam und Jacques wachten neben schnarchenden Nachbarn auf, als um circa ein Uhr die Tür zur Baracke krachend aufgestoßen wurde und zwei Soldaten einen schwer verletzten Mann, der sich mit Mühe aufrecht halten konnte, abluden. Jules rieb sich die Augen, wohl mehr um zur Besinnung zu kommen, als besser sehen zu können. Der Verletzte brach zusammen, als die Soldaten ihn losließen. Einer der Uniformierten gab Jules den Befehl, den Mann die Nacht über zu bewachen. Er würde morgen exekutiert. Die Soldaten verließen den Raum und Jules stand hilflos neben dem Verletzten. Offensichtlich hatte er keine Schuss- oder Stichwunden. Auf den ersten Blick war kein Blut zu sehen, aber ihm war übel zugesetzt worden. Überall Prellungen und Hautabschürfungen. War er zusammengebrochen, weil ihm Arme und Beine gebrochen worden waren?
„Wie heißt du?“, fragte Jules, der gerade bemerkte, dass Jacques auf ihn zukam, was gegen die Regeln verstieß. Er fauchte ihn an, wieder in sein Bett zu verschwinden. Jacques ließ sich nicht beeindrucken und wartete ebenfalls auf die Antwort des Verletzten. Als nichts passierte, beugte er sich hinunter und hielt sein Ohr an den Mund des Mannes.
„Friedel Winkler“, röchelte er mit geschwollenen Lippen. Jacques richtete sich auf.
„‚Friedel Winkler‘, kannst du in dein Buch schreiben, Jules. Damit alles seine Ordnung hat. Was machst du nun mit der armen Sau?“
„Hilf mir, ihn dort ins leere Bett zu tragen, gleich da, neben den Rotschopf.“
„Nicht dein Ernst“, maulte Jacques. „Der heult uns heute Nacht die Hucke voll. Wir werden kein Auge zutun. Du sollst auf ihn aufpassen. So hab ich das verstanden. Da wäre er besser neben dir aufgehoben.“
„Pack mit an! Wir schleppen ihn zu euch“, befahl Jules.
Sie halfen Winkler auf die Beine zu kommen und verfrachteten ihn neben Liam in den Bettkasten. Als er sich hinlegte, klappte er in sich zusammen und keuchte vor Schmerzen.
„Was hast du verbrochen?“, fragte Jacques. „Du bist Deutscher, dein Name verrät es und du siehst aus wie einer. Warum hat man dich so zugerichtet?“
Winkler sah Jacques an. Seine Augen signalisierten Todesangst.
Jacques insistierte. „Wir können es uns hier nicht leisten, eine falsche Ratte zu beherbergen. Wer sagt uns, dass du nicht eingeschleust wurdest, um uns auszuspionieren?“
Jules reagierte ungehalten. „Was soll man hier denn ausspionieren? Den hat es erwischt. Vielleicht hat er für die Entente spioniert. Oder schlimmer, er ist ein Deserteur.“
„Für beide Vergehen wird er exekutiert. Sein Schicksal ist besiegelt. Das Himmelfahrtskommando ist bestellt.“ Jacques drehte sich zu den anderen um und sprach im Brustton eines Kenners: „Ihr habt es gehört. Sie machen kurzen Prozess.“
Er beugte sich erneut nieder.
„Spion oder Deserteur? Was bist du?“
Winkler schloss die Augen. Sein Kopf fiel zur Seite. Jacques fühlte seinen Puls.
„Lassen wir ihn von den süßen Mädchen träumen, wie sie den Kurfürstendamm entlang schlendern und ihm einen Handkuss zuwerfen, bevor ihn der Teufel holt.“
Liam hatte bis dahin unbeteiligt zugesehen und wandte sich nun an Jacques.
„Sie haben ihm seine Uniform abgenommen. Das heißt, dass er ein Deserteur ist und sie ihn als Schandfleck betrachten. Ohne Hilfe wird er die Nacht nicht überleben. Er ist geschwächt und wer weiß, was sie sonst noch mit ihm angestellt haben.“
„Was guckst du mich an? Ich bin kein Samariter. Lass ihn erfrieren oder kuschel dich an ihn.“
„Jules, hol ihm eine Decke!“, bestimmte Liam, ohne