„Dia dhuit“, sagte der Mann aus Eire plötzlich.
„Oh Wunder. Eire hat eine eigene Mundart, so wie unsere Bretonen oder die Waliser von der Insel. O’Flaherty. O’, O’, O’. Dia dhuit. Buchstabier das Wort.“
„Es ist ein Gruß und bedeutet: Bonjour.“
„Buchstabier, Junge!“
Liam versuchte es, geriet aber ins Stocken und gab auf.
„Ich habe nie schreiben gelernt. Es ist Gälisch. Ich kann’s besser sprechen.“
„Das lässt du lieber sein. Verstehe nichts, aber ganz so dämlich bin ich nicht. Eire ist auch gälisch und heißt Irland, stimmt’s? Was, um alles in der Welt, hat dich in den Krieg verschlagen? Bist du ein entflohener Sträfling oder gar ein Mörder?“
„Du möchtest eine aufs Maul. Ich bin freiwillig der französischen Armee beigetreten. Freischärler. Bin nicht der Einzige aus meinem Land.“
„Gibt es bei euch nichts zu essen oder schlimmer, habt ihr keine Frauen? Freiwillig in den Krieg, du bist bescheuert.“
„Bürgerkrieg. Die Engländer haben unser Land ausgebeutet und hinterließen Chaos. Ich wollte weg, heuerte auf einer Fähre an, kam so nach Roscoff und habe mich eurem Widerstand angeschlossen. Von irgendwas musste ich leben.“
„Vom Regen in die Traufe nenn ich das. Wie alt bist du?“
„Ich wurde von meiner Mutter getrennt, als ich sechs Jahre alt war. Wir schrieben das Jahr 1894, geboren 1888 als viertes von sieben Kindern.“
„Demnach bist du 30 Jahre alt. Wieso wurdest du von deiner Mutter getrennt? Hat sie deinen Vater um die Ecke gebracht und landete im Gefängnis?“
Liams rechte Hand schnellte vor und griff Jacques am Hals, drückte ihm die Luft ab, sodass er nach hinten auszuweichen versuchte, aber gegen einen anderen Mann prallte. Um einen Tumult zu verhindern und Strafmaßnahmen zu vermeiden, löste der Mann Liams Griff mit beiden Händen und gebot ihm, die Klappe zu halten und sich zu benehmen. Kollektivstrafen waren an der Tagesordnung und sehr gefürchtet, noch schlimmer war nur noch die Isolationshaft.
Jacques rieb sich den Hals und schluckte demonstrativ schwerfällig. Er drehte seinen Kopf zirkulierend in alle Richtungen und bedankte sich bei seinem Retter.
„Was ist in dich gefahren?“, stänkerte er Liam an. „Du bist wahnsinnig, legst jedes Wort auf die Goldwaage. Wo kommen wir hin, wenn man nicht mal einen Scherz machen darf? Idiot. Pack mich ein zweites Mal an und sie werden dir die Eingeweide bei lebendigem Leibe rausreißen. Wie kann man nur freiwillig in den Krieg ziehen? Du könntest einer Frau den Hof machen, den lieben langen Tag Calvados trinken und abends lockst du sie in die Federn. Rosshaar, du hast auf die falsche Karte gesetzt. Willst du wissen, was ich glaube? Du kennst dich nicht mit Frauen aus. Ich wette, du hast noch nie zwischen den Schenkeln einer Frau gelegen, kennst nicht den intimen Duft ihres Geschlechts, du keltischer Bauer. Bumst lieber die Schweine.“
Jacques spielte mit der Versuchung, Liam bis aufs Blut zu reizen, denn er wusste, dass die Mitgefangenen ihm eine zweite Attacke nicht verzeihen würden. Liam blieb gelassen, warnte ihn aber eindringlich.
„Du kannst mich ruhig beleidigen, Franzose, aber Hände weg von meiner Familie.“
Endlich kehrte Ruhe ein. Jacques schlurfte hinter Liam her und beide wurden endlich zum Waschen in die mit morschen Brettern verkleidete Kammer beordert. Zu sechst standen sie in einer Reihe und wie erwartet war das Wasser kalt. Sie waren nicht verwöhnt, hatten im Winter 1917 Feuergefechte im offenen Feld überlebt und im wochenlangen Partisanenkampf Straßenzüge erobert und wieder verloren. Kalt duschen kostete trotzdem Überwindung, aber wer wollte sich das anmerken lassen? Liam hatte keine Berührungsängste mit dem frostigen Nass. Er duschte ausgiebig und nahm immer wieder eine Handvoll von der braunen mit Sand vermengten Seife und rieb sich damit ein. Die Männer links und rechts von ihm schnaubten wie Pferde, als sie sich unter den kalten Strahl stellten und rieben kräftig an ihrer Haut. Wohl eher um sich zu wärmen, als zu waschen.
Jacques schnaufte auch, nachdem er sich nur kurz nass rieseln ließ und schnell das einzige Handtuch zum Abtrocknen in Besitz nahm. Liam würde das triefende Handtuch als Letzter in die Finger kriegen. Wieso fror der Mann nicht? Und dieses genüssliche Einseifen, als hätte er noch nie geduscht. „Rosskopf“, rief ihm Jacques zu, „vergiss deine Mähne nicht. Dort sitzen die Läuse und der kleine Pimmelmann ist kaum zu sehen, hat sich in seinem Pelz verkrochen.“
Keiner der anderen Männer zeigte sich belustigt und da die Wache für einen Moment den Raum verlassen hatte, sah Liam seine Chance, packte Jacques von hinten, umschloss ihn mit einem stählernen Griff und zerrte ihn unter die Dusche. Jacques fluchte, allerdings nur eine Sekunde, bis einer der Männer ihm den Mund verschloss. Liams Körper glühte vor Hitze, während Jacques’ Haut immer blauer wurde. Die Lektion hatte gesessen. Lächelnd ließ Liam ihn los. Jacques schnappte sich das Handtuch, fluchte Kaskaden von Verwünschungen und zog die Einheitskleidung an.
„Schade um die schöne Uniform“, sagte Liam bedauernd. Er meinte es ehrlich auf seine ganz naive Art. Liam verließ die Dusche und Jacques warf ihm das durchnässte Handtuch zu. Diesmal ohne blöden Kommentar. Liam wrang das Handtuch aus und rieb es minutenlang über seinen Körper, der von dieser Massage so viel Wärme entwickelte, dass die feuchte Schicht auf seiner Haut schnell verdunstete und er getrocknet seine Kleider überwarf.
Zum Anprobieren der Holzschuhe mussten sie in den Nebenraum. Man hatte sie gewarnt, sich ja die richtige Größe auszusuchen, denn es wartete Zwangsarbeit draußen in den Feldern auf sie. Beulen, Blasen und blutende Wunden würden niemanden interessieren und das Holzschuhlager war kein Modeladen. Erst wenn das ausgesuchte Paar zerbrochen oder zerschlissen war, bekam man ein neues.
Der Lagerkommandant war kein Samariter, aber er wusste um die Notwendigkeit, seine Gefangenen gesund für die Arbeit zu halten. Schuhe und Kleidung waren da essenziell und die Nahrung durfte nicht zu dürftig sein. Verletzte wurden behandelt, aber wer durch sein eigenes Verschulden arbeitsunfähig wurde, musste büßen. Um generell die Zahl der Verletzten und Schwachen gering zu halten, hatte er befohlen, dass die anderen für die Arbeitsunfähigen mitarbeiten mussten, was in der Konsequenz härtere Arbeitsbedingungen bedeutete, was niemand wollte.
Belgien, 2020
Les Bon Villers lag noch im Tiefschlaf, als Marcel Bresson an diesem Morgen aufbrach, um die Strecke bis Haltern am See mit nur einer Pause zu schaffen. Ungünstigerweise gab es keine schnurgerade Autobahn zwischen den beiden Städtchen und gehetzt wollte er nicht ankommen, zu spät aber auch nicht.
Der Heimatverein hatte sich um Bresson bemüht und um einen Vortrag gebeten. Als Schriftsteller war Bresson gescheitert. Seinen Romanen fehlte der originelle Brückenschlag zwischen Wort und Fantasie. Sie lasen sich wie ein Marktstand. Man wusste, dass hinter den Bananen die Apfelsinen lagen und danach die Kirschen kamen. Geschichten dieser Art schrieb das Leben jeden Tag und man war sie leid. Vergiftetes Obst wäre des Rätsels Lösung gewesen, aber diese Erkenntnis kam zu spät. Außerdem gab es ein Erlebnis, das ihn nachdenklich gemacht hatte und weswegen er das Schreiben gänzlich an den Nagel gehängt hatte.
Während einer Lesung in der örtlichen Sparkasse von Les Bon Villers, zu der hauptsächlich Bekannte und Freunde zu seiner moralischen Unterstützung gekommen waren, hatte er mehr oder weniger spontan seinen neuen Roman beiseitegelegt und einfach drauflos erzählt. Der Abend wurde ein voller Erfolg. Zu seiner Verwunderung stellte Marcel im Nachhinein fest, dass er sich ganz und gar nicht an seinen Romantext gehalten, sondern frei nach Gefühl eine mitreißende Geschichte erfunden hatte. Der Zuspruch seiner beeindruckten Hörer veranlasste ihn daraufhin, dem Schreiben den Rücken zu kehren und sich als Geschichtenerzähler ein Zubrot zu verdienen.
Frau Marion Thüner vom Heimatverein Haltern-Sythen war auf einer Urlaubsfahrt nach Les Bon Villers auf Bresson aufmerksam geworden. Das Kulturamt der kleinen belgischen Stadt hatte im Rahmen der deutsch-belgischen Freundschaft zu einem Abend voller neckischer Anekdoten eingeladen. „In Deutsch“,