Oft sah die Realität am nächsten Morgen anders aus. Marion war ohne große Abschiedsszene zurück in ihre Heimat abgereist. Allein wegen der Distanz wäre eine Beziehung zwischen ihr und Marcel unpraktisch gewesen, obwohl sie ledig war und als Lehrerin in den frühen Sechzigern nicht wählerisch.
Für Marcel gestalteten sich die Ereignisse dieses Abends allerdings zu einem Schlüsselerlebnis. Der Applaus und die aufgeregt gackernde Gesellschaft der weiblichen Zuhörer, von denen sogar eine ein Autogramm auf ihrem Arm von ihm haben wollte, veranlassten ihn, am folgenden Tag auf den Dachboden seines Elternhauses zu steigen und in längst vergessenen und verstaubten Utensilien der Vergangenheit zu wühlen. Er suchte nichts Geringeres als die Tagebücher seines Großonkels Jules Bresson. Wie es der Zufall wollte, hatte Marcel als kleiner Junge von seinem Großonkel erfahren, dass er am Ersten Weltkrieg teilgenommen hatte. Das wollte er genau wissen, vielleicht auch, weil er in den Besitz einer Geschichte gelangen könnte, die am Ende Marions Herz für ihn in Wallung bringen würde.
Baracke 8
Jacques war es nicht gewohnt, Holzschuhe an seinen Füßen zu tragen, entsprechend stelzig lief er auf die Eingangstür von Baracke 8, seinem neuen Zuhause, zu. Es drückte bereits jetzt am dicken Zeh seines rechten Fußes, aber es war zwecklos, sich darüber zu beklagen. Ein müdes Lächeln seiner Landsmänner wäre der größte zu erwartende Trost gewesen.
Achtbettkammern kannte er aus der Kaserne und der Jugendfreizeit. Eine Halle mit hundert Betten überstieg seine Vorstellungskraft, aber genau eine solche Behausung sah er vor sich. Ein milchiger Dunst durchzog die Bretterburg. Es roch nach Schweiß von Füßen und Achseln. Hemden hingen zum Trocknen auf Leinen und überall lagen Strümpfe herum. Die Insassen kamen von der Arbeit und alle waren erpicht darauf, möglichst schnell ihre Kleidung zu trocknen. Sonst lief man Gefahr, in der Nacht zu frieren.
Jacques dachte darüber nach, warum fast alle Betten in der Mitte des Raumes belegt waren. Es schien ihm widersinnig, da man während der Nacht nicht unbedingt von schnarchenden und keuchenden Nachbarn umringt sein wollte. Ein Bett am Rande würde er vorziehen.
Nach einer ersten ernüchternden Orientierung schaute er sich um und sah, wie Liam den Raum betrat und sofort, ohne der gesamten Situation einen würdigenden Blick zu schenken, das erstbeste Bett nahe der Mitte in Beschlag nahm. Es kostete ihn einen Augenblick Bedenkzeit Liam anzusprechen, da es nicht so aussehen sollte, als liefe er ihm nach.
„Du badest gern in der Menge. Ich hoffe dir hängt kein Fuß im Gesicht, wenn du von den struppigen Mädels auf deiner Insel träumst.“
Jacques wollte nicht direkt mit der Frage heraus, warum Liam sich so zielstrebig für die Mitte als Ort für seine Nachtruhe entschieden hatte.
„Warst du bei den Royal Irish Rifles? Ihr Iren kämpft mit euren Erzfeinden, den Briten, Schulter an Schulter. Was ist los mit euch?“
„Eigentlich mögen wir die Deutschen, aber die sprechen kein Englisch. Deswegen traut sich kein Ire an der deutschen Seite der Front zu kämpfen.“
„Eine simple Erklärung. Sehe schon, für Politik interessierst du dich nicht sehr. Was dagegen, wenn ich hier kurz sitzen bleibe? Ich muss mir meinen Zeh reiben. Die verdammten Klotschen sind mir zu hart.“
„Kannst hier dein Quartier aufschlagen. Ist wärmer als am Rand. Du musst aufpassen, dass du keine Blasenentzündung kriegst, das tut weh und du pinkelst ins Bett. Die Matratzen sind mit Stroh gefüllt. Das stinkt wie im Schweinestall. Die Männer, die am Rand schlafen, sind öfter undicht, weil es dort kälter ist. Der Wind pfeift durch die Bretterritzen.“
Jacques hatte die Information bekommen, nach der er gesucht hatte, ganz ohne sich die Blöße der Unkenntnis zu geben.
„D’accord. Bleib ich also hier. Bist du vorher in einem anderen Lager gewesen?“
„In Eire. Sie nennen es workhouse. Ist aber falsch, da es dort keine Arbeit gibt.“
„Und warum vergleichst du ein workhouse mit einem Gefangenenlager? Entschuldige, aber warst du da freiwillig?“
„Mit sechs Jahren entscheidest du nicht über Freiwilligkeit.“
„In dem Alter wurdest du von deiner Mutter getrennt. Ich weiß. Wohl auch nicht freiwillig?“
„Unser landlord hat uns aus unserem cottage und von unserem Feld vertrieben. Wir mussten hungern. Mein Vater war an Gicht erkrankt und konnte nicht arbeiten. Da sind wir alle ins workhouse gegangen.“
„Du willst mir nicht sagen, warum du von deiner Mutter getrennt wurdest?“
„Ich habe sie täglich sehen können, wenn es Essen gab und das workhouse nicht überfüllt war.“
„Weißt du, was ich an dir schätze? Du redest nicht wie eine Frau. Wenn mich hier eins ankotzt, dann die tristen Gesichter und die Banalität der Provinz. Ruhig Blut, Jacques! Die Deutschen haben dein Leben verschont. Sei dankbar! Ein bisschen Reden würde ablenken, verstehst du? Wenn ich dir alles aus der Nase ziehen muss, kommt kein Spaß auf. Meinst du, du könntest ein normales Gespräch führen?“
„Um dir zu gefallen?“
„Um diesem gottverdammten Ort einen Funken Zivilisation einzuhauchen. Ich komme aus St. Germain bei Paris. Schon gehört, Rosskopf? Da fahren teure Autos über die prunkvollen Alleen. Da vergeht dir Hören und Sehen. Von den Frauen in den Karossen ganz zu schweigen. Ich will ja nicht, dass du Cancan für mich tanzt, nur mal was von ganz alleine sagen. Das wäre ein Stückchen Normalität in dieser welken Hütte, und würde unserem miserablen Schicksal trotzen.“
„Kommst du vom Theater?“
„Erzähl mir endlich, warum du von deiner Mutter getrennt wurdest.“
„Du kennst die Armut nicht. Sie rücken morgens auf Pferden an und treiben dich aus dem Haus. Mutter, Vater und alle Kinder stehen auf der Straße im Regen. Die Tür des Hauses wird vernagelt. Du besitzt lediglich, was du am Leibe trägst. Es bleibt nur der Weg ins workhouse und dort ist es Gesetz, dass Männer und Frauen getrennt werden genau wie die Kinder von ihren Eltern. Das ist das Regime der Armut. Sie wollen verhindern, dass Arme freiwillig ins workhouse gehen, um dort durchgefüttert zu werden. Deswegen schneiden sie die Familie entzwei, damit es richtig wehtut. Man darf das workhouse nicht verlassen, nur einmal, wenn du für immer ‚Au revoir‘ sagst. Es gibt kein Zurück. Ich ließ meine Mutter und Geschwister dort. Mein Vater starb. Geschlafen haben wir übrigens auch in Räumen mit 100 Betten und für 1000 Insassen gab er keine einzige Dusche. Wir wuschen uns draußen auf dem Hof, wenn es regnete.“
Liam lächelte erwartungsvoll, als käme nun ein großes Lob für seine Geschichte. Jacques schaute ungläubig und schwieg. Liam gefiel das nicht.
„Zufrieden, frenchman?“, bohrte er nach.
„Die Hölle auf Erden. Arme Sau. Verschone mich mit weiteren Einzelheiten. Brechen wir stattdessen in Jubel über unsere jetzige Bleibe aus: Heil, Allemagne!“ „Heil, Germany!“, salutierte Liam, als hätte Jacques ihn angestiftet. Ein Wärter kam auf sie zu.
„Schnauze halten. Elendes Pack. Besser eure Leichen lägen in den Gräben von Verdun. Ich knall euch ab, draußen im freien Feld. Morgen, wenn es niemand sieht.“ Der Wärter zeigte auf seine Pistole am Gürtel, machte eine eindeutige Geste und ging wieder.
Jacques probierte seine Matratze aus. Als er sich der Länge nach hinlegte, entwich ihr ein herber Duft, eine Mischung aus Ammoniak und Schimmelpilz. Instinktiv setzte er sich wieder hin und räusperte sich. Er wollte sich bei Liam erkundigen, ob es bei ihm auch so stank, aber Liam lag bereits mit geschlossenen Augen auf seinem Bett und hatte die Hände über der Brust gefaltet. Es sah nicht nach einem Einschlafritual aus. Jacques war sich sicher, dass er betete und wollte ihn aus Respekt nicht unterbrechen.
Dieser katholische Ire besaß eine gehörige Portion Gottvertrauen. Glaubte, Gott würde ihn in dieser verfluchten Hütte besuchen. Was für ein Mensch