Ein letzter Gruß. Reiner Sörries. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Reiner Sörries
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783766642868
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der Asche vom Ballon aus oder die Generierung eines Diamanten aus der Asche des Verstorbenen nur einen kaum messbaren Anteil an den Bestattungsarten, aber sie haben unterstützt durch ihre mediale Aufbereitung die Mentalität dahingehend verändert, dass man nun alles für möglich hielt. Selbst die Urne zu Hause war über den halblegalen Umweg über das grenzenlose, benachbarte Ausland und dienstbeflissene Bestatter zu einer Option geworden. Und es entstanden weiterhin sogar echte Alternativen in Gestalt der Urnen- oder Begräbniskirchen. In Aachen und Marl waren 2005 die ersten Kirchen, die man aufgrund der Zusammenlegung von Kirchengemeinden nicht mehr für die Messe benötigte, für die Beisetzung von Urnen geöffnet worden. Damit hatte die katholische Kirche eine Beisetzungsform erfunden, welche die vorausgehende Feuerbestattung voraussetzte, die man bis zum Zweiten Vatikanischen Konzil 1963 noch für un- und antichristlich gehalten und den Gläubigen verboten hatte.

      Dies nahmen die deutschen Bischöfe zum Anlass für ihr drittes Hirtenschreiben zur Bestattungskultur 2011: „Der Herr vollende an Dir, was er in der Taufe begonnen hat. Katholische Bestattungskultur angesichts neuer Herausforderungen.“6 Darin erklärten sie unter anderem, dass und wie sich das Bestattungsverhalten in der Gesellschaft verändert hat: „Die Bestattungskultur unterliegt … einem stetigen Wandel. Neue Formen entstehen, die der Mobilität der Menschen, der zunehmenden Vereinsamung im Alter, dem Rückgang der Religiosität oder auch dem Wunsch, den Nachkommen nicht zur Last zu fallen, geschuldet sind.“7 Weiter verwiesen die Bischöfe auf die nach wie vor als gültig erachtete Haltung, die Körper-Erd-Bestattung sei die menschlich und liturgisch angemessenere Form, doch akzeptierten sie nun die Kremation: „Bei aller kirchlichen Wertschätzung der Bestattung des Leichnams darf dies nicht zu einer pastoralen und liturgischen Abwertung der Feuerbestattung führen.“8

      Schließlich formulierten sie eine Rechtfertigung für die Einrichtung der Urnenkirchen aus ökonomischen und theologischen Gründen: „An die Tradition kirchlicher Friedhöfe wird an einzelnen Orten angeknüpft, wenn Kirchen, die vor allem aus finanziellen Gründen nicht mehr gottesdienstlich genutzt werden können, zu Kolumbarien umgewidmet und umgestaltet werden. Sie können vor allem dort sinnvoll sein, wo es keine innerstädtischen Friedhöfe in kirchlicher Trägerschaft gibt. Solche Kolumbarien sind ein augenfälliges Zeichen einer Bestattung in der Nähe der Lebenden. Wenn ausnahmsweise im Kolumbarium die heilige Messe gefeiert wird, machen sie den Zusammenhang zwischen Begräbnis, Totengedenken und Eucharistie in besonderer Weise deutlich.“9

      Diese neue Bestattungsmöglichkeit, die erstens nicht neu ist, denn während des Mittelalters war die Bestattung in Kirchen weit verbreitet, und zweitens in der Folge auch in der evangelischen Kirche als sinnvolle Alternative angesehen wurde, macht vollends die mentale Spreizung der Bestattungswünsche in der Bevölkerung deutlich. Schlug das Pendel zunächst in Richtung Natur aus, so erfolgte nur Jahre später die Gegenbewegung in Richtung Kultur. Der eine hält das grüne Dach der Wälder für beruhigend, der andere sucht für die letzte Ruhe das Dach der Kirche. Und irgendwo dazwischen liegen seitdem die Friedhöfe, die ihrerseits nun eine Alternative geworden sind.

      Waren bis zu diesen Zeiten die Bestattungsmöglichkeiten in Deutschland durch ein rigides Gesetzeswerk auf die öffentlichen Friedhöfe eingeschränkt, so hält das 21. Jahrhundert nahezu alle Optionen offen. Die Menschen können wählen, wovon sie glauben, dass es ihren Wünschen, Vorstellungen und vor allem auch finanziellen Möglichkeiten entspricht. Mit den Naturbestattungen und den Urnenkirchen, auch mit der Seebestattung, die ebenfalls als weitere Alternative genannt werden kann, und mit den extravaganten Alternativen, die das liberalere Ausland eröffnet, war der ehedem gültige Friedhofszwang an allen Stellen perforiert. Den vorläufigen Schlusspunkt setzte 2014 die Bremer Bürgerschaft, die mit einem neuen Friedhofsgesetz den Friedhofszwang außer Kraft setzte.10 Nach dem Beschluss der Bremischen Bürgerschaft darf die Asche von Toten ab 1. Januar 2015 auch auf Privatgrundstücken oder besonders ausgewiesenen öffentlichen Flächen verstreut werden, wenn der Verstorbene dies zu Lebzeiten schriftlich so verfügt hat.

      Innerhalb von zwei Jahrzehnten hatte sich in Deutschland die Bestattungskultur radikal verändert, und dieser Wandel, der von vielen als dynamisch bezeichnet wird, ist noch nicht an sein Ende gelangt. Eine politische Liberalisierung und eine wachsende Ökonomisierung des Bestattungswesens werden im Sinne einer multioptionalen Gesellschaft weitere Alternativen entwickeln. In der Ursachenforschung waren sich die beteiligten Experten von Kirche bis Gewerke nicht immer ganz einig, doch bekunden sie alle die Befürchtung, es handle sich dabei um einen Verlust religiöser und traditioneller Werte, denen man kritisch gegenüberstehen müsse. Dass die beobachteten Phänomene auch Chancen zu einer Neuorientierung bieten, wurde nur von wenigen in Erwägung gezogen. Dass sie sogar die notwendige Folge einer sich Gehör verschaffenden Einsicht in die Verschiedenheit der Menschen in einer säkularen, multireligiösen und individualisierten Gesellschaft sind, blieb aus den Überlegungen ausgeklammert. Noch hatte das, was unter dem Wissenschaftsbegriff der Diversity erörtert wurde, die Öffentlichkeit und erst recht die Diskussion um die Bestattungskultur nicht erreicht. Sie soll im Folgenden als ein Erklärungsmodell für den Wandel im Bestattungs- und Trauerverhalten dienen.

      Denn während die Änderungen der Beisetzungsmöglichkeiten eigentlich nur äußerliche Phänomene beschreiben, hat sich viel schwerwiegender ein innerer Mentalitätswandel vollzogen, der die Trauer und ihre Bewältigung fortan bestimmt. Jeder und jede Einzelne denkt, fühlt und handelt nach inneren Einstellungen und Überzeugungen. Es ist schon richtig, dass der Wandel im Trauerverhalten schon von anderen mit einer zunehmenden Individualisierung erklärt wurde, hier soll diese Individualität weiter im Sinne von Verschiedenheit, eben von Diversity, präzisiert werden. Ausdruck von Individualität ist keineswegs ein Handeln gewissermaßen nach Gefühl und Wellenschlag, sondern Verschiedenheit ist von sehr konkreten Faktoren bestimmt. Indem ein Mensch als Mann oder Frau, als Trans- oder Intersexueller geboren wird, er innerhalb einer bestimmten Gruppe sozialisiert sowie beruflich und gesellschaftlich eingebunden ist, letztendlich religiös und weltanschaulich gepolt ist, bestimmt sich danach seine Lebens- und Verhaltensweise. Freilich kann diese durch gesellschaftliche Normen oder durch gesetzliche Regelungen eingeschränkt oder sogar unterbunden werden, doch ändert dies nichts an den grundsätzlichen Bedürfnissen. Fallen jedoch die Einschränkungen sozialer und politischer Natur, so können sie sich entfalten. Genau dies geschieht wie in vielen anderen Lebensbereichen nun auch in der Bestattungs- und Trauerkultur.

      Gender und Diversity haben als Begrifflichkeiten noch kaum Eingang in den allgemeinen Sprachgebrauch gefunden und sind eher noch Themen akademischer Überlegungen und Forschungen. Die damit verbundenen Phänomene hingegen spiegeln sich in den politischen und gesellschaftlichen Diskussionen etwa um die Frauenquote oder um die politisch korrekte Bezeichnung von bestimmten Persönlichkeitsmerkmalen. In der Öffentlichkeit stößt es bisweilen auf Unverständnis, dass der aus Kindertagen vertraute Negerkuss oder Mohrenkopf so nicht mehr genannt werden darf, sondern nun Schokokuss oder Schaumkuss heißen muss. Dahinter steht jedoch die wachsende Erkenntnis, dass Menschen nicht aufgrund ihrer Rasse als Neger oder Mohr bezeichnet werden dürfen, denn dahinter könnte eine Diskriminierung aus rassistischen Gründen stecken. Die Sozialwissenschaftler haben längst ausgemacht, dass es individuelle Eigenarten gibt, die zur Diskriminierung der betreffenden Person führen können. Verschiedenheiten werden als Diversity bezeichnet und sie gliedern sich nach heutigen Maßstäben hauptsächlich nach

       Geschlecht,

       Alter,

       physische und psychische Fähigkeiten/Unfähigkeiten, Beeinträchtigungen, Behinderungen, auch Handicap,

       Rasse, Ethnie, Herkunft,

       Religion und Weltanschauung,

       sexueller Orientierung, Hetero, Homo, Trans- und Intersexualität.

      Es muss klar sein, dass solche Persönlichkeitsmerkmale heute nicht mehr Anlass zu Diskriminierung sein dürfen, und diese Erkenntnis hat Eingang gefunden in die Gesetzgebung, die jedoch vorwiegend die Welt des Arbeitsmarktes betrifft. Antidiskriminierungsmaßnahmen müssen sich jedoch auch über diesen speziellen Bereich hinaus