Ifes Mutter wusste natürlich nicht, dass sie, wenn sie erhobenen Hauptes daher stolzierte, kein Sklavenmädchen war, sondern eine frei geborene Indianerin.
Ife hatte selten Indianer zu Gesicht bekommen, auch wenn es hieß, dass sie dort draußen in den Wäldern lebten. Manchmal kam ein alter Mann auf die Plantage, der geheime Dinge mit dem Mister beredete. Seine Kleidung war ähnlich schlicht wie die der Sklaven, aber weniger zerlumpt. Er war mit allerlei Schmuck behangen, und sein Gesicht war mit roter Farbe bemalt. Die Sklaven betrachteten ihn stets voller Misstrauen. Es hieß sogar, dass die Indianer entflohene Sklaven jagten und sie zurückbrachten, manchmal tot, manchmal lebendig. Ihre Mutter hielt Ife bei den Strafzeremonien Augen und Ohren zu. Sie konnte sich aber nicht erinnern, dass die Entlaufenen von Indianern zurückgebracht wurden, auch wenn so einige nach kurzer Zeit wieder aufgetaucht waren.
Mutter, wenn du wüsstest, dachte Ife, du hast mich das hier nicht gelehrt. Mit deiner Ergebenheit. Wer den Kopf einzieht, wird von den Prügeln verschont bleiben. Ich hoffe, dass es dir geholfen hat. Es war merkwürdig: Wenn sie ihre innere Stimme an die Mutter richtete, blieb das Bild, das sie von ihr hatte, verschwommen, eine schwarze Fläche mit einer tiefen Narbe auf der Stirn, von einem Moment, als ihr das Kopfeinziehen nicht geholfen hatte. Ihr Mund, ihre Nasenflügel, der Schwung ihrer Augenbrauen blieb formlos. Ihre leise, ein wenig holprige Stimme war das, woran sich Ife am besten erinnern konnte, und daher fiel es ihr auch leichter, innere Zwiegespräche mit ihrer Mutter zu führen, als ihr Bild heraufzubeschwören. Wenn sie ihrer Mutter heute über den Weg liefe – nein, natürlich nicht im Wald, hier hätte man Mutter kaum in Ketten herschleifen können –, würde Ife sie überhaupt erkennen? Oder würde sie nur eine fremde gealterte Sklavin sehen, eine Frau mit faltiger Haut, hochgezogenen Schultern und gesenktem Blick? Wenn Mutter überhaupt noch am Leben war.
War es bereits Nachmittag, als Ife das Grün um sie herum lästig wurde? Sie liebte Pflanzen, sie hatte sich mit ihnen meistens besser verstanden als mit Menschen. Aber hier standen sie vor ihr als eine abweisende Armee von Fremden, die sie skeptisch beäugten, die ihr zuflüsterten: »Wir werden mal sehen, ob du hier durchkommst. Wo willst du denn eigentlich hin so alleine?« Es klang nicht bösartig, eher unbeteiligt. Ja, es störte Ife am meisten, dass ihr Schicksal ihnen ganz und gar egal war.
Irgendwann kam der Hunger, um ihr Gesellschaft zu leisten. Die Aufregung und die Erschöpfung hatten ihn erstaunlich klein gehalten, aber jetzt begann er in ihrem Magen zu rumoren und setzte sich über das Gebot der Stille einfach hinweg. Vielleicht wäre es klug gewesen, einige Handvoll Maniok zu stehlen, ein paar Stücke Zuckerrohr, es hätte ihr wenigstens über die ersten Tage geholfen. Der Hunger war zum Glück kein Fremder, sie traf ihn täglich, morgens beim Aufstehen, wenn sie vor dem Frühstück an die Arbeit musste und später, wenn sich der Tag dem Ende neigte.
Zum Hunger gesellte sich Durst. Gierig schaute Ife in die Hohlräume zusammengerollter Blätter, ob sich nicht hier und da ein paar Tropfen finden würden, aber es war zu lange trocken gewesen. Oft glaubte sie in einem Land ewigen Regens zu leben, aber wenn man den Regen brauchte, hatte er nicht einmal Spuren hinterlassen. Sie strengte ihre Ohren an, irgendwo in der Ferne das Plätschern eines Baches zu hören, und der Wunsch brachte erstaunlich realistische Töne hervor, doch Wasser konnte er nicht herbeizaubern. Ife besann sich der Kraft des Amuletts, das sie in sich trug. Würde sie an seiner Kraft zweifeln, wäre sie seiner auch nicht würdig. Ihr Körper war stark genug, nun musste ihr Geist wach genug sein, um ihre neue Welt zu finden. Leise, ganz leise, fast nur in ihrem Kopf hörbar, sang sie:
»Mi Aisa, mi aisa … «
Die Luft färbte sich erst dunkelgrün, dann graugrün und Ife wusste, dass nun innerhalb von Minuten die lange Nacht hereinbrechen würde. Es war die Stunde, zu der die Mücken ihr abendliches Mahl suchten.
In dieser Nacht ging sie nicht weiter, da sie niemanden auf ihren Fersen wähnte. Sie fand keinen besonders geeigneten Platz für ein Nachtlager und so rollte sie sich dort auf dem Boden zusammen, wo nicht zu viele Wurzeln in ihren Rücken drückten. Wie der Wald ihr tagsüber seine Stille entgegengeworfen hatte, so überschüttete er sie in der Nacht mit Geräuschen. Über ihrem Kopf begann es zu schreien und zu fiepen, Flügel wurden geschlagen, kleine Krallen kratzten an Baumstämmen. Auf dem Boden raschelte es mal schnell und leicht, mal knackte ein Holz, ja selbst das Atmen eines Tieres war zu vernehmen. Wenn sie die ganze Nacht auf die Geräusche hören wollte, würde sie kein Auge zutun.
Wie sollte sie die harmlosen von den gefährlichen Tieren an ihrem Blätterrascheln unterscheiden? Wie sollte sie wissen, ob sich in der Ferne ein Gürteltier oder ein Spürhund durch das Dickicht bewegte? Es gab so viel über diese fremde Welt zu lernen, doch aus Fehlern würde sie kaum klug werden. Sie musste das Kunststück bewerkstelligen, ohne Fehler zu lernen und im Schlaf wachsam zu sein.
Ife erwachte schon in der Dämmerung, wieder hatte sie tief und fest geschlafen, hatte sich unbedarft an die Nacht ausgeliefert. Direkt über ihr saß ein Vogel. Sein Lied klang vergnügt, und er zeigte keine Angst vor ihr. Selbst als sie ihren Körper stöhnend entrollte, bewegte er sich nicht von seinem niedrigen Ast. Er wackelte ein paarmal mit seinem Kopf, betrachtete sie mal mit dem einen, mal mit dem anderen Auge und setzte seinen Gesang unbeirrt fort.
Ife kratzte sich ausgiebig an Armen und Beinen, dann sah sie die haarige Spinne nur wenige Zentimeter von der Stelle, wo ihr Kopf gelegen hatte. »Du musst auf den Bäumen schlafen«, ermahnte sie sich. »Wie es die Indianer tun.« Die Indianer flochten sich Hängematten aus den Fasern des Waldes. Kein Indianer würde sich jemals wie die Sklaven in ihren Hütten auf ein ebenerdiges Strohlager legen. Doch sie hatte keine Zeit, sich eine Hängematte zu flechten. Jetzt noch nicht, sie musste noch weiter weg von der Plantage und möglichen Sklavenjägern.
Sie ging langsam und schaute immer wieder nach oben, ob in den Bäumen nicht irgendwelche Früchte hingen. Sie suchte nach den Früchten der Papaya und der Guayaba. Sofia-Bada liebte diese Früchte. Es war wichtig, die Winti bei Laune zu halten, am besten, indem man ihnen ihre Leibspeise gab. Loko mochte lieber irdene Gewächse wie den Maniok, füllte sich Ife den Magen mit seinem mehligen Brei, rieb er sich versonnen den Bauch. Aber Maniok musste man pflanzen, das wusste Ife, und man musste ihn kochen, wenn man sich nicht den Magen verrenken wollte. Maniok kam nicht infrage, Loko musste auf seine Leibspeise verzichten.
Die Dinge, die die Sklaven auf ihren eigenen Feldern und zwischen den Baracken des Yards anbauten, gab es hier nicht. Es gab andere Dinge im Wald, Dinge, die die Vögel aßen, wie Würmer und Ameisen. Coba hatte manches Mal ein Stück lose Rinde von einem Baumstamm abgehoben und sich die weißen, sich windenden Würmer in den Mund gesteckt. Ife hatte es mit Abscheu beobachtet.
»Was denn? Das ist besser als das, was sie uns auf der Plantage geben«, hatte Coba gesagt. »Greif zu, so etwas Gutes bekommst du so schnell nicht wieder.«
Doch Ife konnte nicht. Sie stellte sich vor, wie die Würmer sich in ihrem Inneren hin und her wanden, um schließlich aus der Nase wieder heraus zu kriechen. Sie konnte es nicht. Zwar hatte sie nie einen Wurm aus Cobas Nase herauskriechen sehen, aber vielleicht