Vor Ifes Baracke brannte Feuer, dessen Schein hin und wieder das Gesicht eines Vorübergehenden erhellte. Es qualmte stark und roch leicht nach Sirup. Die Köchin hatte den Topf bereits vom Feuer genommen und schöpfte daraus mit geübtem Augenmaß in die Schalen der Sklaven. Es war ein wässriger Eintopf, in dem Maniok- und Bananenstücke schwammen. Gierig verbrannte Ife sich an den ersten Bissen, trotzdem war ihr der heiße Maniok eine Wohltat auf der Zunge. In der Hocke löffelte Ife ihre Schale leer, ohne ein einziges Mal aufzusehen. Erst danach betrachtete sie die Gesichter der am Feuer Sitzenden. Sie suchte John. Er saß auf der anderen Seite des Feuers, sein Gesicht wurde nur manchmal erhellt. Mit zwei anderen Männern rauchte er, und sie waren ganz und gar darin versunken. Fast war er um diese Versunkenheit zu beneiden, um diesen einen Moment des Tages, der nur ihm gehörte. Ife war sich nun ganz sicher, dass ihm gegenüber kein einziges Wort, auch nicht die leiseste Andeutung ihre Lippen verlassen würde. Sie warf Azuka und Elise ein »Gute Nacht« zu, dann zog sie sich zurück in die Baracke, wobei sie ein paar Mal innehielt, um zu lauschen, ob ihr niemand folgte.
Sie rollte sich auf ihrer Matte zusammen und tastete mit einer Hand in den Spalt zwischen dem Stroh und der Bambuswand. Dort bewahrte sie das schwarze Wasser auf, nur eine kleine Pfütze, gesammelt in einer Nussschale. Sie tauchte ihren Zeigefinger hinein und rieb die Flüssigkeit über ihr Gesicht und ihre Arme. Ihre Haut kribbelte, als der dünne Film trocknete, ein Kribbeln, das in sie hineinzog und sie in noch stärkere Aufregung versetzte. Dann griff sie nach dem Amulett, das Coba ihr gefertigt hatte. Auch dieses lag nicht erst seit gestern bereit. Sie umschloss es fest in ihrer Hand, fühlte die getrockneten Bohnen, die in die 15 Kräuter hineingewoben waren, kleine, feste Knubbel, die für die Kraft eines jeden ihrer Winti standen. Von den Bohnen sollten sich die Winti auf ihrem beschwerlichen Weg ernähren und sich im Notfall, wenn ihnen unterwegs jemand nach dem Leben trachtete, darin einkapseln können. Die 15 Kräuter würden bewirken, dass kein Tier sie riechen konnte und dass menschlichen Wesen die Sicht vernebelt wurde, sodass sie unbemerkt an ihnen vorbeihuschen konnte und dass keine Machete und keine Gewehrkugel sie treffen konnten. Sie drückte das Amulett so fest, dass es ihr in Fleisch und Blut überging, die kleinen, schwarzen Bohnen nun Knoten in ihrer Hand waren, die schon bald auf Wanderschaft durch ihren Körper gehen würden. Sie öffnete die Hand und betrachtete ihre leere Handfläche.
Sie schnürte kein Bündel, da sie keinen Besitz hatte. Das verrostete Hackmesser versteckte sie unter ihren Kleidern. Sie besaß ein Paar Füße, ein Paar Augen und Ohren, ein Paar Nasenlöcher und alles, was sie in ihrem Kopf aufbewahren konnte. Sie ging.
3
Der flaumige grüne Überzug der Felswand erwies sich bei genauerem Hinsehen als Mosaik von Grüntönen: graublaugrünes Geflecht, maigrüne zartblättrige Fächerpflanzen, Miniaturen mit kaum sichtbaren Blüten, freischwebende, dickblättrige Sterne. Das Geflecht nahm einen Moment ihre ganze Aufmerksamkeit in Anspruch. Sie zeichnete mit dem Auge die Formenvielfalt nach, bis sie sich entsann, wo sie war – wenn sie das nur genau wüsste! Sie war in der Nacht in den Wald gelaufen, wo kein Mond ihren Weg erhellte. Sie hatte versucht, geradeaus zu gehen, so weit die Ranken ihr Durchlass gewährten. Sie hatte sich die Hände an dornigen Baumstämmen aufgerissen. Stimmen hatten sie begleitet, das Gebrüll einer Affenhorde in der Ferne, das Fiepen nächtlicher Kleintiere oben im Geäst, ein Grunzen aus dem Unterholz, das ihr einen Schauer über den Rücken jagte. Sie hielt zur Verteidigung ihr Messer umklammert, hauptsächlich, um ihr rasendes Herz zu beschwichtigen. Sie war gelaufen, bis es nicht weiter ging.
Ob sie sich nun nach rechts oder links wandte, überall schnitt ihr die grün gepolsterte Felswand den Weg ab. Schließlich hatte sie sich davor gelegt. Die Erschöpfung erlaubte ihr nicht länger, sich am Fels entlang zu tasten und gleichzeitig ihre Beine aus der stetigen Umarmung der Schlingpflanzen zu reißen. Sie musste sich ausruhen, und wenn es nur für eine Stunde war. Aber sie fiel in einen tiefen Schlaf, und als sie erwachte, herrschte die grüne Helligkeit des vollen Tages. Sie hatte keine Zeit zu verlieren und doch konnte sie nicht anders als zu stehen und zu staunen. Nie war sie so tief im Wald gewesen. Der Wald hatte immer dort hinter den Hütten und Feldern gelegen, greifbar nahe, und doch war er kaum mehr als der grüne Hintergrund ihrer Welt gewesen.
Ein paar Mal hatte sie Coba in den Wald begleitet. Coba hatte die Erlaubnis, weil sie eine Heilerin war und ihre Kräuter im Wald suchen musste, doch weit ins Dickicht wagte sich auch Coba nicht vor. Gerne ließ man sie nicht gehen. Immer wieder forderten die Herrschaften und die Wächter sie auf, ihre Kräuter im Garten anzupflanzen. Wieso sollten sie schließlich hundert Meter außerhalb des Waldes nicht wachsen, auf diesem Land, auf dem ohnehin alles wucherte, ob man nun wollte oder nicht? Coba brauchte Baumrinden und Pilze, die an den Wurzeln der Bäume und oben auf ihren Ästen wuchsen. So erhielt sie die Erlaubnis, hin und wieder in den Wald zu gehen. Ife hatte Coba begleiten dürfen, weil sie ihre Schülerin und Helferin war. Niemals hätte Ife auf einem dieser Ausflüge weglaufen können, weil sie Coba zu sehr liebte und Coba für Ifes Entkommen hätte büßen müssen.
Ife atmete. Die Luft war bis in ihre Lungen hinein grün gefärbt. Die Angst der letzten Nacht hatte sich unter dem Blätterdach aufgelöst. Der Wald war unglaublich ruhig, so als wäre sie das einzige Lebewesen weit und breit. Es war so ruhig, dass sie ihre Verfolger von Weitem hören würde. Sie sah an den geraden glatten Baumstämmen hoch, schwindelerregend und astlos verloren sie sich in der Höhe und boten keine Möglichkeit, sich vor Spürhunden zu retten.
Sie schlängelte sich durch die brusthohen Gewächse mit den riesigen Fächerblättern am Fuß der Felswand. Sie war nicht geübt im Klettern, aber gegen die Baumstämme war die Felswand ein Kinderspiel. Sie war ungefähr dreimal so hoch wie sie selbst. Von oben hingen Gewächse an Fäden hinunter, trügerische Seile, zu schwach für das Gewicht eines Menschen. Sie hakte ihre nackten Füße in eine Felsspalte, während ihre Hände nach Vorsprüngen tasteten. Einmal trat sie auf ihrem Weg nach oben auf etwas Weiches und sie glaubte, ein schwaches Fiepen zu hören.
Das Schwierigste war die Kante, denn den Pflanzen darauf war nicht zu trauen. Dann hing sie da, die Beine noch in der Tiefe baumelnd, der Oberkörper in der Waagerechten auf einer Moosschicht gebettet. Die Anstrengung der Kletterpartie war nicht groß und dennoch fühlte sie sich wieder unendlich erschöpft. Sie zog die Beine herauf, erhob sich auf alle Viere und schaute sich um. Hier oben war der Wald lichter, auch auf dem Boden wuchsen nur niedrige Polster und Kräuter. Dazwischen krabbelten unzählige schwarze Ameisen, jede so lang wie ihr halber kleiner Finger. Eine verlief sich zwischen ihren Zehen, fühlte sich bedrängt und biss beherzt zu. Ife rutschte ein winziges »Au« heraus und sofort presste sie strafend die Lippen zusammen, als könnte sie das kleinste Geräusch verraten.
Gehen, einfach gehen. So gerade wie möglich, wenn es schon keine Sonne gab, an der sie sich orientieren konnte. Etwas beunruhigt nahm sie zur Kenntnis, dass sich der Boden unter ihren Füßen wieder sanft nach unten wölbte. Sollte die Hürde, die sie genommen hatte, an anderer Stelle ganz bequem zu umgehen sein? Zumindest konnten die Hunde ihrer Spur nicht geradewegs folgen, würden bellend vor der steilen Wand stehen, bis ihre Halter sie um das Hindernis herumführten. Bald wurden die Pflanzen um sie herum wieder höher, standen aber nicht allzu dicht. Bei Tageslicht war der Wald erstaunlich durchlässig, Wurzeln, Lianen und andere Hindernisse waren nun sichtbar, und sie konnte ihnen aus dem Weg gehen. Die Pflanzen reckten sich nach oben, einer allzu fernen Sonne entgegen, die nur spärlich nach unten durchdrang. Trotzdem hatte sich auf Ifes Haut ein klebriger Film gebildet und sie sehnte sich nach einem erfrischenden Bad.
Auch nach Stunden hatte sich Ife nicht an die Stille gewöhnt. Ihr fehlten mit einem Mal das Knarren der Mühle, das Krachen von berstendem Holz in den Feuern, das anschwellende Rauschen der Siedekessel, das Rascheln von Zuckerrohr, der Gesang der Sklaven, selbst das Knallen der Peitsche. Stattdessen vernahm sie überdeutlich, wenn ein Stock unter ihren Füßen knackte, und das Bersten drang tief in den Wald hinein. Ganz selten hörte sie hoch über sich das Flügelschlagen oder den Schrei eines Vogels. Sie schien das einzige Lebewesen mit Beinen in einer Welt aus Pflanzen zu sein. Nicht ganz, da waren die Ameisen und andere lautlose Krabbeltiere.
Normalerweise hätte sie singen mögen,