Aber ohne Geschichte, ohne die Bemühung um die Mehrung des Wissens über sie, verblöden wir vollends, werden wir zu den Räubern und Schlächtern, die wir alle sind. Andererseits.
Nu’ nimm mal das Pathos raus.
Okay. J. sagt: »Im Moseleck sitzen die restlichen Überlebenden aus der guten, alten Zeit, die sich bis zum Gnadenschuß den letzten Schuß geben.« Und mein Kumpel, ein sachte sanguinischer Mensch, für den Solidarität im kleinteilig verkanteten Alltag eine Selbstverständlichkeit ist, sagt: »Das Moseleck ist heute eine der letzten deutschsprachigen Kneipen im Bahnhofsviertel.«
»Ein Überbleibsel«, wirft jemand ein.
»Die Restlichen vom Überbleibsel«, ein anderer.
Stores wie eingelegt in Nikotin, hängen da seit 1957, vermute ich. Bis 1938 hieß die Henninger-Pachtkneipe Landsturmeck. Seit hundertzehn Jahren gibt es die Wirtschaft, die seit wann auch immer den Untertitel Musik-Pilsstube trägt. Er gefällt mir, er möge überdauern, welche Zeiten auch immer kommen werden.
Was soll man zu alledem, was man an einem Frühabend im Moseleck sieht und hört, sagen? Ziemlich beknackte Frage, ich gebe es zu.
J. behauptet, das Moseleck sei nie eine richtige Nuttenkneipe gewesen. Immer zu proletarisch. »Aber wenn Messe ist, werden da die Messegäste abgesoffen.« Von den Nutten vermutlich. Oder irgendwie halt.
Noch was an der Wand: eine Bricolage aus einem goldenen High Heel und einer Bacardi- und einer Champagnerflasche samt passenden Gläsern. Auf der Toilette an der Scheißhaustür ein Grafitto: »Fick die Polizei!« Ins Depraviertenmilieu reingeschneite Linksgesinnung?
19.05 Uhr, am Tresen: »Ich hab’ früher mal gelebt, und heut’ bin ich ganz unten. Ich hab’ die Welt geseh’n, fuffzich Jahr’ krieg’ ich nemmer.« Sind hier die alten Zeiten tatsächlich alt, verschwommen, schaurig schöne Zeiten?
»Im Dampfkessel«, sagt J., »sind auch Boxer verkehrt. Ebby Thust war da. Im Keller war ein Trainingsraum eingerichtet. Da konntest du dir die Fresse polieren lassen, wenn du genug gesoffen hattest.«
Jetzt sagt der Wirt meiner Stammkneipe doch was – zum Dampfkessel: »Vom obersten Professor bis zum letzten Penner war jeder drin. Da hatte jeder Kultur in dieser Zeit, ’76, ’78, achtziger Jahre. Huren ohne Ende, Lesben, alles drin. Wenn du müde warst, hast du hinten im Kabuff geschlafen. Morgens hieß es: ›Bitte leise! Da hinten schlafen ein paar Leute.‹ In dieser Zeit, das waren gute Leute, nicht das heutige System.«
Auf meinem Notizzettel steht übers Moseleck: »Rustikalität und Rabaukentum«. Es läuft »Tutti Frutti« von Little Richard. Der Wirt schlägt im Hamsterrad der Befüllung beinahe Salti. Geräuschforscher könnten ergiebiges Material sammeln – und Gesichtsforscher, die sich die Blicke jener am Alterungsanstieg befindlichen Frauen einprägten, die am Tresen den Kopf übers kleine Pils senken und irgendwohin schauen, wahrscheinlich in sich hinein, wo man nichts oder das Immergleiche sieht.
J. sagt: »Das waren bessere Zeiten. Wir waren eine Clique von Autohändlern und Gastronomen. Wir haben gute Geschäfte gemacht, da galt der Handschlag. Es waren gute Zeiten.«
Ich denke: Im Moseleck findet das, was in jeder Trabantensiedlung und in jedem Kaff in diesem Land jeden Tag stattfindet, wenigstens öffentlich statt. Ohne Scham. Und deshalb – schöner?
Markus, um die zwanzig, schätze ich, sagt in meiner Stammkneipe im Gallusviertel: »Heute saufen sich im Moseleck die Eintracht-Fans einen an.«
»Asbach Uralt 2 cl 2,–; Remy Martin 2 cl 2,50; Wodka Moskovskaya 2 cl 2,–; Bacardi-Rum 2 cl 2,–; Jägermeister 2 cl 2,–; Fernet-Branca 2 cl 2,–; Fernet-Menta 2 cl 2,–; Underberg 2 cl 2,–; Kümmerling 2 cl 2,–; Campari Soda 2 cl 2,50; Martini Bianco 2 cl 2,50; Martini Rosso 2 cl 2,50; Korn 2 cl 2,–; Doornkaat 2 cl 2,–; Johnnie Walker 2 cl 3,–; Chivas 2 cl 4,–; Jim Beam 2 cl 3,–; Jack Daniels 2 cl 4,–.«
Die rote Schlange von Izmir
Das ist es: nur noch dasitzen, den ganzen Tag, und schauen – auf die Blumenpracht rund um die Veranda, mitten im Oktober; auf die gelbbraunen, kegel-, sack- und quaderförmigen Gneis- und Granitassemblagen des Beşparmak Dağları, des Fünffingergebirges, das sich in das Dorf Kapıkırı hineinschiebt, eine unsortierte Häuseransammlung im Südwesten der Türkei zwischen den Ruinen des ehemaligen Herakleia, das zum Königreich Karien gehörte und wo man heute die Pension Kaya findet. Ich zögere, das preiszugeben. Es könnten sich ein paar der unzähligen Kretins auf diesem geschundenen Planeten dazu animiert fühlen, dieses Paradies heimzusuchen. Bleibt weg. Tut mir und Güray den Gefallen.
Oder das: auf den Bafasee zu Füßen der Terrasse stieren, ziellos und wie weggeweht, aufs smaragdblau glitzernde Wasser, auf Seidenreiher, Kormorane, Pelikane, Flamingos, die durch die weiche Luft streichen und sich was von einer Welt nach den Menschen erzählen; und dabei, sagen wir: um zwölf, nach einem Frühstück mit Schafskäse, Rührei, Tomaten, Gurken, Oliven und Weißbrot, das erste kühle Efes öffnen und leicht wie der milde Wind in sich hineinlaufen lassen.
»Ohne Bier ist es ein bißchen langweilig«, sagt Güray, der die Pension führt. »Hier ist ein Ort, oder? Keine Musik. Nur Esel, nur Kuh, nur Vögel. Kein Flugzeug.«
Oder den Blick hinaufrichten – zum Fünffingergebirge, das früher Latmosgebirge hieß, zu den gezackten Linien und den mächtigen braungrünen Gesteinsauffaltungen. Jenseits des Gipfels, erzählt Güray, wissen die Leute nicht, was Oliven sind. Da kennen sie bloß Pinien, und hier im Dorf seien er und sein Bruder Mehmet die einzigen, die jemals mit den Menschen auf der anderen Seite des Bergmassivs gesprochen hätten, von dem der antike Geschichtsschreiber und Geograph Strabon behauptet, es werde in der Ilias als »Pinienberg« erwähnt.
Und nachts, halbvoll wie ein Däne, dem Steinkauz lauschen, bis am nächsten Morgen der Esel röhrt, wehklagt und weint.
Güray ißt ausschließlich Gemüse und Zigaretten. Genauer: Ich habe ihn noch nie etwas essen sehen – außer Zigaretten. Er ist strichdünn, flink und gewandt wie eine Bergziege, hat Arbeiterhände und ein von tiefen Furchen und Lachfalten durchzogenes Gesicht. Güray gehört zu den zehn freundlichsten, gutmütigsten Menschen der Welt.
Oder das wär’s: zwei Wochen lang jeden Tag zu den Zwillingsinseln im Bafasee rausfahren, am Kieselstrand zehn Flaschen Bier in der Sonne trinken und zurückkuttern, um mit Güray zu plaudern.
Güray nimmt einen Schluck Rakı, nervenkräftigende Löwenmilch, wie man in der Türkei den Anisschnaps nennt. »Ich habe die Ohren auf den See und die Augen auf die Berge gerichtet. Was willst du in der Stadt? Hier hast du Gurken, Tomaten, Fisch, ein Haus und Natur – alles umsonst. Aber die Menschen haben immer Angst, sie haben Angst vor allem. Hier haben sie Angst vor dem See, vor dem Berg, davor, etwas in der Stadt zu verpassen. Wie kann man vor der Natur Angst haben?«
Vor vielen Jahren habe er, der Familie seiner ersten Frau zuliebe, versucht, in die Moschee zu gehen. Nach dem vierten Mal bat ihn der Imam, nicht mehr wiederzukommen. Güray hatte über die Betrituale und das Drumherum ständig lachen müssen – und sei’s über die Löcher in den Socken der todernsten Männer. »Kein’ Chance! Ich immer lachen!« wiederholt er. Er lacht und beschreibt, wie die Kirche den Leuten das Geld raubt.
Herr Erdoğan, der mit Inbrunst Tausende von liberalen Journalisten verfolgen und nach Gusto in den Karzer werfen läßt, wird das ungern vernehmen. Die Islamisierung schreitet unter der Regentschaft seiner Partei, der AKP, zügig voran. Saudi-arabische Imame dürfen jetzt in Schulen unterrichten, Bier, Wein und Rakı werden immer teurer, an Universitäten gilt seit August totales Alkoholverbot.
Güray ist ungehalten. »Alles wollen sie uns verbieten: das Rauchen, das Trinken, an keinen Gott zu glauben. Verbote, Verbote, Verbote.« Mit Begeisterung lesen wir dieser Tage auch, daß der türkische Pianist Fazil Say wegen der »öffentlichen Erniedrigung religiöser Werte« vor Gericht gezerrt wird,