* Eines der meistgebrauchten Argumente der Befürworter ist, tausende tausendfacher Nazimörder seien in den 50er Jahren sehr schnell entlassen worden, warum also nicht auch die beiden jetzt. Boock und seine Anwälte fügen hinzu, er sei nur Mitläufer gewesen, nur der Techniker, der nie wusste, wer umgebracht werden sollte – eine Position, die im Lande der Mitläufer und Eichmänner, die auch nie wussten, was mit den Juden passierte, deren Transport sie organisierten, auf grauenhaftes Verständnis stösst und jede ernsthafte Auseinandersetzung um die RAF wie die Gesellschaft, die für sie mitverantwortlich ist, verhindert. Der Vergleich mit der Behandlung der Nazis zeigt also nur den Widerspruch, die Verlogenheit eines Staates, der mit zweierlei Maß misst. Dazu zu sagen ist aber, dass die Entlassung der Nazimörder in der Tat die moralische Korrumpierung eines ganzen Volkes, die ethische Verwahrlosung einer ganzen Gesellschaft ausdrückte, also exakt das, was z. B. die bayerische Justizministerin und andere rechte Politiker heute auf die Entlassung von Speitel und Boock projizieren: weil man die RAF – jedenfalls solange sie noch nicht genickschussmordete – nicht mit den Nazis gleichsetzen kann.
* Schließlich wird in fast jedem Kommentar darauf verwiesen, dass Speitel und Boock sich »glaubhaft vom Terrorismus distanziert« hätten. Bis auf einige vorsichtige Nachdenklichkeiten von dem damaligen Regierungssprecher Klaus Bölling hat sich bis heute niemand der damals Verantwortlichen von dem zum Teil gesetzwidrigen Verhalten der Polizei und von den politisch unsinnigen und kontraproduktiven Überreaktionen der Regierung distanziert. Von der RAF wird verlangt, dass sie die Waffen niederlegen soll – was sie de facto zu tun im Begriffe ist, nachdem sie sich zuletzt auf Schrotflinten beschränkte –, noch nirgends war davon zu lesen, dass dann auch sämtliche mit der RAF begründeten Sondergesetze, Hochsicherheitstrakt und Sonderhaftbedingungen sowie der maßlose Ausbau der politischen Überwachung und Terrorisierung jeder noch so irrelevanten politischen Äußerung abgebaut wird. Es kann ja wohl nicht um einseitige Abrüstung gehen, aber auch eine Frage nach Vorleistungen ist einfach zu beantworten: der Staat, der in der Auseinandersetzung mit der RAF nun wirklich zweifelsfrei gesiegt hat – und gerade das lächerliche »Attentat« auf einen unbekannten Staatssekretär belegt das –, könnte es sich sogar leisten, das Verfahren umzudrehen, und erst sämtliche Sondergesetze im Eilverfahren rückgängig zu machen, die Hochsicherheitstrakts mit Bulldozern niederzureißen und BKA und Verfassungsschutz um 50 % zu reduzieren (sie sind dann immer noch doppelt so stark wie vor der RAF-Zeit); die 25 Knarren der RAF sind dann ungleich einfacher abgelegt. Damit kein Missverständnis entsteht: Damit wäre nicht jegliche gesellschaftliche, politische Auseinandersetzung, auch nicht die radikale, beendet – die Gründe dafür bestehen ja weiter und werden immer mehr –, es wäre nur eine längst unpolitisch gewordene Verlängerung längst vergangener Auseinandersetzungen beendet, eine Verlängerung, für die – und das ist der Punkt – diese Gesellschaft im Ganzen, diese Justiz und diese Linke, insbesondere die sich in diesem Jahr so peinlich selbst feiernde der selbsternannten »68er«, zentral mitverantwortlich sind.
Eine Diskussion um eine Begnadigung – sogar die Begnadigung selbst, so sehr sie ein notwendiger und richtiger Schritt wäre – kann nicht die Diskussion über die Auseinandersetzungen in den siebziger Jahren ersetzen. Und sie kann nicht die Notwendigkeit ersetzen, sofort mit einem radikalen Abbau der unsinnigen Sicherheitsvorkehrungen und Schikanen in den Gefängnissen zu beginnen – sonst wäre sie nur ein Alibi. Wird sie jedoch als ein erster Schritt begriffen, den Prozess einer umfassenden Amnestie – die schon vom Begriff her auch ein Eingeständnis der Mitverantwortung der Gesellschaft und ihrer Verpflichtung zum Abbau der überzogenen neuen Gesetze wäre – einzuleiten, dann wäre tatsächlich eine neue Qualität gesellschaftlicher Diskussion und Praxis erreicht.
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