Diese Haltung ist zwar verständlich, aber sie übersieht, dass die UNO trotz aller auch in diesem Buch beschriebenen Unzulänglichkeiten und Widersprüche in den letzten 75 Jahren viel erreicht hat. Und diese Haltung der Abkehr von der UNO gibt auch keine Antwort auf die Frage, was denn die Alternative wäre.
Die letzten 75 Jahre ohne die UNO?
Gemessen an dem in der Gründungscharta von 1945 formulierten Hauptziel, »künftige Generationen vor der Geißel des Krieges zu bewahren«, ist die UNO, oder besser, sind ihre inzwischen 193 Mitgliedstaaten gescheitert. Das ist sicher richtig. Über 265 bewaffnete Konflikte fanden in den letzten 75 Jahren statt, oftmals verbunden mit Völkermord und anderen schweren Menschenrechtsverletzungen.
Doch ohne die UNO und ihre Bemühungen zur Beilegung gewaltsamer Auseinandersetzungen hätten viele dieser Konflikte noch länger gedauert, noch mehr Tote und Verwundete gefordert und noch mehr Zerstörungen hinterlassen. Ohne die UNO wäre es wahrscheinlich zu einem dritten Weltkrieg gekommen, möglicherweise sogar unter Einsatz atomarer Waffen. Zahlreiche Situationen, in denen die Welt sehr nahe am Abgrund eines atomaren Krieges stand – wie im Oktober 1962 während der Krise wegen der sowjetischen Raketen auf Kuba –, wurden im UNO-Sicherheitsrat entschärft. Und ohne die UNO und ihre humanitären Unterorganisationen wären in den letzten 75 Jahren Hunderte Millionen Opfer von Naturkatastrophen, Hungersnöten und gewaltsamen Vertreibungen nicht versorgt worden. Schließlich bot die UNO den Rahmen für die Vereinbarung zahlreicher internationaler Normen, Regeln und Verträge zu Rüstungskontrolle und Abrüstung, Menschenrechten, Umweltschutz, Sozialstandards und auf zahlreichen anderen Gebieten. Diese Normen, Regeln und Verträge haben die Erde zwar nicht in ein Paradies verwandelt. Aber sie trugen und tragen immerhin dazu bei, die Lebensbedingungen für viele der inzwischen über sieben Milliarden Erdbewohner in zahlreichen Bereichen zu verbessern.
Eine Auflösung der 1945 gegründeten UNO bedeutete den Rückfall in die Barbarei weitgehend ungeregelter zwischenstaatlicher Beziehungen.
Eine handlungsfähige Weltorganisation – heute mindestens so dringend nötig wie 1945
Tatsächlich bedarf es heute einer funktionierenden und handlungsfähigen Weltorganisation mindestens so dringend wie 1945. Unterentwicklung, Aids, Hunger, Umweltzerstörung, Terrorismus, Massenvernichtungswaffen, Konflikte um Wasser, fossile Energieträger und andere Ressourcen – das sind heute die zentralen globalen Herausforderungen. Die Völker und Staaten dieser Erde werden diese Herausforderungen, wenn überhaupt, nur durch vermehrte kooperative Anstrengungen im Rahmen einer politisch, finanziell und strukturell gestärkten UNO bewältigen können. Die Vorschläge von Kofi Annan aus dem Jahr 2005 sind heute noch alle aktuell und richtig, und ihre Umsetzung ist noch dringender geworden.
In den letzten fünfzehn Jahren wurden vor allem von Nichtregierungsorganisationen noch weiter gehende Reformvorschläge entwickelt – etwa zur Finanzierung der UNO oder zur Durchsetzung verbindlicher Menschenrechts-, Arbeits-, Sozial- und Umweltnormen für Wirtschaftsunternehmen.
Koalition williger Multilateralisten statt Weltordnung der G2, G8 oder G20
Eine Umsetzung all dieser Vorschläge zur Stärkung der UNO und ihrer Handlungsfähigkeit hängt davon ab, ob sich unter den 193 Mitgliedstaaten der Generalversammlung eine strategische Koalition williger Multilateralisten zusammenfindet. Eine Koalition, die bereit ist, diese Vorschläge auch dann umzusetzen, wenn sich die USA, China, Russland oder andere Vetomächte und gewichtige Mitgliedstaaten zunächst nicht beteiligen oder sogar ausdrücklich dagegen sind. Zu dieser Koalition müssten neben den europäischen Staaten erklärte Multilateralisten aus anderen Weltregionen gehören wie zum Beispiel Kanada, Mexiko, Brasilien, Indien, Südafrika, Ägypten und Australien.
Das UNO-Abkommen zum Verbot von Atomwaffen, die Schaffung des Internationalen Strafgerichtshofs, die Vereinbarung des Kyoto-Protokolls und des nachfolgenden Pariser Abkommens zum Klimaschutz sowie die drei Konventionen zum Verbot von Antipersonenminen und von Streumunition sowie zur Kontrolle des konventionellen Waffenhandels – jeweils durchgesetzt ohne Beteiligung oder gar gegen den erklärten Willen der USA, teilweise zunächst auch Russlands und Chinas – sind sechs erfolgreiche Beispiele für derartige Koalitionen aus den letzten 25 Jahren. In allen sechs Fällen bestand die ursprüngliche Koalition zunächst nur aus einer kleinen Minderheit von maximal zwei Dutzend der UNO-Mitgliedstaaten, die – angetrieben und unterstützt von Nichtregierungsorganisationen – in der Generalversammlung für ihre Ziele warben. Bis Ende 2020 haben 189 Staaten das Pariser Klimaabkommen unterschrieben und ratifiziert sowie jeweils über 150 Staaten – also über drei Viertel der UNO-Mitglieder – die Verbotskonventionen zu Antipersonenminen und Streumunition. 123 Staaten sind trotz massiven Gegendrucks aus Washington dem Internationalen Strafgerichtshof beigetreten.
Die konsequente Weiterverfolgung der Strategie einer die Weltregionen übergreifenden Koalition engagierter Multilateralisten, die zur Bewältigung der globalen Herausforderungen auf das kollektive System der UNO setzen – das wäre die Alternative zu dem gefährlichen Versuch, eine neue, militärisch definierte multipolare Machtbalance oder gar nur eine neue bipolare Weltordnung der G2 (USA und China) zu errichten.
Andreas Zumach, Genf und Berlin, 16. März 2021
»Entwicklung, Sicherheit und Menschenrechte für alle« – die überfällige Reform der UNO
Die UNO hat in ihren ersten 75 Jahren zahlreiche Reformdebatten erlebt. Dabei verbanden die beteiligten Akteure mit ihren Forderungen nach »Reformen« durchaus unterschiedliche bis widersprüchliche Ziele. Die Regierungen der USA seit der Reagan-Administration der achtziger Jahre meinten mit »Reform« der UNO in erster Linie die »Entbürokratisierung« der Weltorganisation, finanzielle und personelle Einsparungen und »schlankere Strukturen«. Dahinter stand in vielen Fällen das mehr oder weniger deutlich artikulierte Ziel, Abteilungen oder gar ganze Unterorganisationen des UN-Systems, gegen deren Tätigkeit Washington politische Einwände hatte, bis zur Wirkungslosigkeit zu schwächen oder ganz abzuschaffen. In einigen Fällen gelang das auch.
Andere Länder verbanden mit der Forderung nach »Reform der UNO« in erster Linie das Interesse, die eigene Stellung innerhalb der Weltorganisation zu stärken. Das gilt zum Beispiel für die deutschen Bundesregierungen, deren Rufe nach einer Reform der UNO sich seit 1993 im Wesentlichen auf den Sicherheitsrat beschränken und zum Ziel haben, in diesem Gremium einen ständigen Sitz für Deutschland zu erhalten, möglichst mit Vetorecht. Drittens gibt es Staaten wie China oder Pakistan, die seit dem Ende des Kalten Krieges vollzogene positive Schritte zur Demokratisierung der Weltorganisation – zum Beispiel die stärkeren Beteiligungsmöglichkeiten für Nichtregierungsorganisationen im Menschenrechtsrat und anderen Bereichen des UNO-Systems – wieder rückgängig machen wollen.
Im Kontrast zu all diesen beschränkten, eigensüchtigen oder rückwärtsgewandten Vorstellungen stehen die Vorschläge für eine umfassende UNO-Reform, die Generalsekretär Kofi Annan den Mitgliedstaaten vorlegte. Unter dem Titel »In größerer Freiheit. Auf dem Weg zu Entwicklung, Sicherheit und Menschenrechten für alle« empfahl der Generalsekretär weit über hundert konkrete Reformmaßnahmen mit dem Ziel, die Handlungsfähigkeit der UNO im 21. Jahrhundert zur Bewältigung globaler Herausforderungen und zur Verhinderung und Beendigung von Gewaltkonflikten zu stärken. Doch 90 Prozent von Annans weiterhin hochaktuellen Vorschlägen