Reform oder Blockade. Andreas Zumach. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Andreas Zumach
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Изобразительное искусство, фотография
Год издания: 0
isbn: 9783858699121
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– überhaupt möglich? Wie sich die USA und – zum Teil in Reaktion auf die Politik Washingtons – die anderen Global Players künftig verhalten, wird ganz entscheidend die Handlungsfähigkeit des UNO-Sicherheitsrats und anderer Institutionen des UNO-Systems bestimmen. Das Worst-Case-Szenario wäre, die USA entscheiden sich für einen harten, auch militärisch unterfütterten Konfrontationskurs gegen Peking und versuchen die EU sowie ihre pazifischen Verbündeten, Japan, Australien und andere, einzubinden in eine Allianz gegen China, mit dem sich dann wahrscheinlich Russland verbünden wird. Und beide Allianzen bemühen sich, Indien auf ihre Seite zu ziehen. Das würde zu einem neuen globalen Kalten Krieg und einer Totalblockade des Sicherheitsrats führen.

      Neben den USA lieferten auch andere Global Players in den letzten fünf Jahren besorgniserregende Beispiele für die Missachtung völkerrechtlicher Normen, internationaler Institutionen sowie humanitärer Grundprinzipien und Verpflichtungen. Die Regierung Chinas warf das Urteil in den Papierkorb, mit dem der internationale Ständige Schiedshof in Den Haag 2016 auf eine Klage der Philippinen hin Pekings Hoheitsansprüche auf weite Teile des Südchinesischen Meers als Verstoß gegen das UNO-Seerechtsabkommen verurteilte. Russland verfestigte seine Kontrolle über die 2014 völkerrechtswidrig annektierte Krim – unter anderem mit dem Bau der Brücke über das Asowsche Meer – und setzt die Unterstützung der Sezessionskrieger in der Ostukraine fort. Gemeinsam erzwangen Russland und China 2020 im UNO-Sicherheitsrat mit ihrem Veto, dass drei von ursprünglich vier offenen Grenzübergängen für die Lieferung humanitärer Überlebensgüter an die notleidende syrische Bevölkerung geschlossen werden mussten. Und die EU-Staaten verstoßen nach einer Ende Januar 2021 veröffentlichten Analyse des UNO-Hochkommissariats für Flüchtlinge (UNHCR) mit ihrer Behandlung und Zurückweisung von Geflüchteten an den Außengrenzen der EU in immer stärkerem Maße gegen die Genfer Flüchtlingskonvention der UNO von 1951.

      Das Verhalten der Global Players lässt die Aussicht, regionale Kriege und Spannungen sowie innerstaatliche Gewaltkonflikte durch Vermittlung oder Friedensmissionen der UNO zu beenden und politische Lösungen herbeizuführen, noch geringer werden. Bereits die letzten fünf Jahre waren in dieser Hinsicht sehr enttäuschend. Die im Januar 2016 begonnenen Genfer UNO-Verhandlungen über eine Nachkriegsordnung in Syrien verliefen auch in ihrer inzwischen neunten Runde im Januar 2021 erfolglos. Ähnliches gilt für die Bemühungen der UNO im Libyenkonflikt. Im opferreichen Jemenkrieg ist die UNO darauf beschränkt, eine der schlimmsten humanitären Krisen und Hungerkatastrophen seit dem Zweiten Weltkrieg mit völlig unzureichenden Mitteln wenigstens etwas abzumildern. Im anhaltenden Sezessionskrieg in der Ostukraine und im Konflikt um die von Russland völkerrechtswidrig annektierte Krim ist die UNO weiterhin zur Untätigkeit verdammt. Dasselbe galt für den Krieg, der im Herbst 2020 zwischen Armenien und Aserbeidschan stattfand. Die Türkei erhielt für ihren im Oktober 2019 begonnenen Krieg gegen die Kurden in Nordsyrien sogar grünes Licht von den USA und von Russland, zwei ständigen Mitgliedern des Sicherheitsrats, dessen vorrangige Verantwortung »die Bewahrung des Friedens und der internationalen Sicherheit« ist. Und im israelischpalästinensischen Konflikt hat Donald Trump unter mehrfacher Missachtung des Völkerrechts Fakten geschaffen, die den Konflikt nicht befrieden, sondern weiter anheizen werden. Zumal es bislang keine Anzeichen dafür gibt, dass Präsident Biden vorhat, diese völkerrechtswidrigen Akte seines Vorgängers wieder zu korrigieren. Im seit 2002 geführten »Krieg gegen den Terrorismus« unter Führung der USA, der von fast allen UNO-Staaten mehr oder weniger unterstützt wird, gab es mit der Vertreibung der meisten Kämpfer des »Islamischen Staats« (IS) aus Syrien und Irak lediglich einen Etappenerfolg. Dieser ist nicht nachhaltig, und keine der Ursachen für islamistisch gerechtfertigten Terrorismus wurde bislang überwunden.

      Schon seit 2014 – lange vor der Corona-Pandemie und vor Beginn der UNO-feindlichen und völkerrechtswidrigen Politik der Trump-Administration ab Januar 2017 – hatten die Ausbreitung und Eskalation von scheinbar unkontrollierbaren Epidemien (Ebola) und Gewaltkonflikten (Ukraine/Krim, Irak, Syrien, Gazastreifen) und die dadurch ausgelösten humanitären Krisen und Flüchtlingsbewegungen nach Europa bei vielen Menschen den Eindruck von einem »globalen Chaos« erzeugt. Noch verstärkt wurden dieser Eindruck und die damit verbundenen Bedrohungsgefühle durch den schnellen erfolgreichen Eroberungsfeldzug des IS im Irak und in Syrien sowie die spektakulären und opferreichen islamistischen Terroranschläge der Jahre 2015 bis 2017 in Paris, Nizza, Berlin, Manchester und anderen europäischen Städten.

      Die UNO ist mit ihren Bemühungen zur Eindämmung und Beendigung dieser Krisen und Gewaltkonflikte entweder gescheitert, oder sie hat erst gar keine unternommen. Das hatte den Eindruck vom »globalen Chaos« und von einer »aus den Fugen geratenen Welt« noch verstärkt und zu der Meinung geführt, die 1945 gegründete UNO sei inzwischen überflüssig geworden.

      Doch anders als die Rede vom »globalen Chaos« nahelegt, sind Kriege und Krisen, die die letzten Jahre seit 2014 geprägt haben, weder ein unausweichliches Schicksal noch eine Naturkatastrophe oder gar göttlicher Wille. Das gilt auch für all die anderen opferreichen Gewaltkonflikte und Krisen vor allem auf dem afrikanischen Kontinent, die weitgehend durch das Raster der Wahrnehmung westlicher Medien fallen. Für sämtliche dieser Gewaltkonflikte und Krisen existieren analysierbare und benennbare kurz-, mittel- und langfristige Ursachen, seien es absichtsvolle Handlungen oder Fehler und Versäumnisse. Und es gibt Täter und Verantwortliche für diese Handlungen, Fehler und Versäumnisse.

      Für all die genannten Krisen und Gewaltkonflikte lässt sich auch erklären, warum die UNO mit ihren Vermittlungs- und Eindämmungsbemühungen gescheitert ist oder warum sie derartige Bemühungen erst gar nicht unternommen hat. Und es lässt sich auch beschreiben, was geschehen müsste und welche Reformen erforderlich sind, damit die UNO künftig wieder handlungsfähiger wird sowohl in inner- und zwischenstaatlichen Konflikten als auch gegenüber globalen Herausforderungen wie der Corona-Pandemie und dem Klimawandel, der Finanzkrise oder dem islamistisch gerechtfertigten Terrorismus.

       »Die UNO«

      Die Zweifel an der UNO und an ihrer weiteren Nützlichkeit sind allerdings nicht erst 2014 und in der Folge entstanden. Sie wurden bereits im ersten Jahrzehnt nach dem Ende des Kalten Krieges genährt. Dieses Ende war zunächst mit großen Hoffnungen auf eine Weltorganisation verbunden, die, befreit von der Blockade der Ost-West-Konfrontation, nun endlich uneingeschränkt handlungsfähig sei und den Blick frei auf alle Ziele und Aufgaben richten könne, die in der Gründungscharta von 1945 definiert worden waren. Warum hat die UNO die Völkermorde von Ruanda und Srebrenica nicht verhindert? Wieso tut die UNO nichts gegen die völkerrechtswidrige Besatzung der palästinensischen Gebiete durch Israel? Was ist das Völkerrecht noch wert, nachdem es vor allem vom gewichtigsten UNO-Mitglied USA seit Ende der neunziger Jahre immer häufiger gebrochen wurde? Warum tut die UNO nicht mehr, um verbindliche Arbeits-, Sozial- und Umweltnormen auch gegenüber großen Konzernen durchzusetzen? Wieso halten sich die fünf Vetomächte des UNO-Sicherheitsrats nicht an ihre Verpflichtungen zur Abrüstung von Atomwaffen? Warum kommen die Bemühungen der UNO um das Verbot von Kleinwaffen, Uranmunition und anderen grausamen Rüstungsgütern nicht voran? Wieso hat die UNO nicht auf die globale Finanzkrise von 2008 und ihre Folgen reagiert?

      Auf all diese Fragen will dieses Buch versuchen, detaillierte Antworten zu liefern. Wobei sich all diese Antworten auf eine oftmals übersehene Tatsache gründen: »Die UNO« als ein eigenständig handlungsfähiges Subjekt existiert nicht, sondern die UNO ist ein kompliziertes Netzwerk von inzwischen 193 souveränen Nationalstaaten mit oftmals sehr unterschiedlichen Interessen. Dieser Satz ist zwar banal, aber man muss ihn sich immer wieder in Erinnerung rufen. In der Alltagssprache von Medien und Politik taucht »die UNO« alltäglich als Subjekt auf, das »beschließt, fordert, verurteilt, handelt, untersucht, scheitert« und so weiter. Durch diese undifferenzierte Sprache von Politik und Medien wird in der Wahrnehmung der Öffentlichkeit immer wieder neu die Vorstellung genährt, es gebe »die UNO« als eigenständiges Subjekt, das uneigennützig und nach objektiven Maßstäben zur Schlichtung und Lösung von Konflikten wie ein unabhängiger Richter eingreifen könne. Jedes Mal, wenn sich diese Vorstellung dann als Illusion erweist, entsteht Enttäuschung über die Weltorganisation.

      Tatsächlich bestimmen die Mitgliedstaaten das Handeln der UNO. Ob sich die UNO überhaupt um ein Problem kümmert oder