Die gesetzlichen Voraussetzungen zur Einbürgerung bezogen sich nicht auf das Äußere der Bewerber, sondern auf ihre inneren Einstellungen. Antragstellerinnen und Antragsteller hatten sich zuerst mit der deutschen Mentalität vertraut zu machen und sich dann den »deutschen Lebensverhältnissen« anzupassen. Es stellte sich aber allmählich heraus, dass der Begriff »deutsche Mentalität und Lebensart« äußerst verwirrend war. Denn jeder definierte ihn anders. Je mehr sich Sima Khanoom mit diesem Thema beschäftigte, umso weniger wurde sie daraus schlau. Zuerst beschlagnahmte sie unsere Geschichts- und Geographiebücher und las sie alle durch. Sie verfolgte in den Zeitungen die Diskussionen zwischen Politikern unterschiedlicher Parteien und diversen Fachleuten. Nie versäumte sie Interviews mit amtierenden Abgeordneten und Ministern zum Thema Einwanderung, Einbürgerung und Fragen, wer ein Deutscher und was deutsche Kultur sei. Besonders machte sie sich mit CDU-Stellungnahmen und -Programmen so gründlich vertraut, dass sie über die internen Meinungsunterschiede zwischen den einzelnen Flügeln mehr wusste als langjährige Parteimitglieder. Sie kannte sogar weniger bekannte von ihnen beim Namen.
Die Menschenkenntnis meiner Mutter ist beispielhaft. In zwanzig Jahren solider Erfahrung als Lehrerin und der Auseinandersetzung mit etlichen Schülertypen entwickelte sich diese elementare Fähigkeit bis zur Perfektion. Manchmal reicht ihr ein kurzer Blick, die Seele eines Menschen zu erfassen und Charaktere an ihrem Verhalten zu erkennen. Meist erweisen sich ihre Einschätzungen als wahr. Den Menschenschieber A Sardar etwa beschreibt sie als einen netten Onkel, der uns habe helfen wollen. Er sei nicht so wie andere Schmuggler gewesen, die Flüchtlinge einfach in der Wüste ausrauben, ihnen Geld und Schmuck stehlen und plötzlich verschwunden seien. Zwar nannte sie ihn auch Knäuel-Onkel, doch wahrscheinlich nicht seines wirren Aussehens wegen, sondern aufgrund seines verwirrenden Benehmens, das sogar die Männer unserer Fluchtgemeinschaft beunruhigte. Er behauptete, ein Gedächtnis wie ein Elefant zu haben und sich in der Gegend bestens auszukennen. Doch er war nicht in der Lage, die Entfernung zwischen zwei Dörfern einzuschätzen und konnte uns erst recht nicht sagen, wie lange noch bis Karatschi zu fahren sei. Dabei fand er es stressig, dass seine »ungeduldigen Fahrgäste« ihn ständig löcherten. Wurde er eindringlich gefragt: »Wie lange müssen wir noch fahren?«, schüttelte er verstimmt den Kopf und erwiderte: »Ihr nervt mich gewaltig mit euren überflüssigen Fragen. Was für ungeduldige Fahrgäste habe ich diesmal zu transportieren, oh Gott! Eine halbe Stunde. Ab jetzt sind wir nicht viel mehr als eine halbe Stunde unterwegs. Guck mal da! Siehst du die blühenden Bäume? Da ist das nächste Dorf, sein Wasser ist so klar wie Tränen. Das Kleidchen dieses süßen Fräuleins ziehen wir dort aus, schubsen sie in den Bach und lassen sie nackt im Wasser spielen, solange sie will.«
Das süße Fräulein« war ich. Jedes Mal, wenn ich hörte, dass sie vorhatten, mich ins Wasser zu werfen, packte mich ein so ungeheures Entsetzen, dass ich rasch Zuflucht unter dem Tschador meiner Mutter suchte. Seitdem der Knäuel-Onkel sein Käsebrot für mich aufbewahrt hatte, wusste ich wenigstens, dass er mich nicht wie die Ungeheuer Mansureh Khanooms auffressen wollte. Oft ging mir auf unserer Flucht durch den Kopf, dass es nicht schlecht wäre, wenn dieses Knäuel-Ungeheuer sich um uns kümmern könnte, besonders wenn ich in schlaflosen Nächten hörte, dass meine Mutter heimlich unter ihrem Tschador weinte, weil mein Hurensohn-Vater sich so rasch aus dem Staub gemacht hatte, ohne an uns zu denken. Es war dringend notwendig, einen Beschützer zu arrangieren, da unsere Wunderreise jeden Tag abenteuerlicher und gefährlicher wurde.
Bis zur Hälfte der Strecke etwa konnten wir nachts bei Freunden des Knäuel-Onkels übernachten. Doch nahe der Grenze zu Pakistan trauten wir uns nicht einmal, das Dorf zu betreten, das als nächstes am Weg lag. Denn in diesem Gebiet hatte der Knäuel-Onkel statt Freunden viele Feinde. Deshalb mussten wir in der unendlichen Wüste zwischen den Dörfern zelten und zitterten die ganze Nacht – vor Kälte, aus Angst vor den Angriffen der Wölfe, aus Furcht vor den Bissen der Schlangen, deren Rascheln zu hören war. Der Knäuel-Onkel wollte uns stets beruhigen: »Keine Angst. Sie sind nicht giftig. Ich schwöre beim Heiligen Mula Ghodss, die sind harmlos.«
Keiner schenkte ihm Glauben. Keiner kannte seinen Heiligen Mula Ghodss. So blieb die Gruppe von seinen Schwüren unbeeindruckt. Hinter seinem Rücken flüsterten alle: »Er weiß nicht einmal, wie groß die Entfernung zwischen diesen Dörfern ist. Woher will er wissen, ob die Schlangen in diesen Kaffs giftig sind oder nicht.«
Als der Knäuel-Onkel von diesem misstrauischen Gemurmel Wind bekam, benahm er sich noch verwirrender. Eines Abends, als wir rund um ein schäbiges Tuch zusammenhockten und trockenes Brot mit Joghurt aßen, sprang A Sardar plötzlich hoch, schlich lautlos durch den Zelteingang ins Freie und tauchte nach einer Weile mit einer glänzenden schwarzen Schlange vor uns wieder auf. Er hielt den Kopf der Schlange mit seiner von Joghurt triefenden Hand fest und wickelte ihren reglosen Körper um seinen Arm. Vor Schreck steckte ich meinen Kopf unter den Tschador meiner Mutter und begann wie immer zu heulen. Ich schluchzte so laut, dass ich vom Streit zwischen der Gruppe und dem Knäuel-Onkel nichts mitbekam. Nach einer Weile hörte ich auf, weil das entsetzliche und anhaltende Bellen eines wilden Hundes zu mir drang. Ich fürchtete, der Knäuel-Onkel habe zu seiner Verteidigung einen Hund auf die Gruppe losgehetzt. Der Oberkörper meiner Mutter war ständig in Bewegung, als ob sie heftig mit jemandem ringen würde. Vielleicht mit der schwarzen Schlange, die A Sardar ihr zugeworfen hatte, um sich zu rächen, dachte ich. Mich packte eine gewaltige Angst. Mein Herz pochte in meiner Kehle. Plötzlich jedoch begann der Knäuel-Onkel lauter zu bellen als der Hund. Er brüllte zweimal hintereinander: »Die sind nicht giftig! Ich schwöre! Auf das Licht dieser Petroleumlampe!«
Eine kalte Stille füllte das Zelt. Ich blieb im Schoß meiner Mutter versteckt aus Furcht vor der Vorstellung, alle, auch sie hätten das Zelt verlassen, weil der Knäuel-Onkel sie mit der Schlange vergiften wollte, um mit ihnen abzurechnen. Dann wäre ich in diesem Zelt und in dieser Nacht allein gelassen, verloren in der Wüste, in der Welt, und nicht einmal mehr meine Mutter wäre am Leben, um mich zu retten.
Plötzlich packte eine Hand meine Schultern und zog daran. »Kopf hoch, mein liebes Mädchen. Setz dich gerade hin! Ich muss meine schlaffen Beine ausstrecken.«
Ich hob meinen Kopf. Weder Schlange noch Schlangenfänger waren zu sehen. Der Hund bellte nicht mehr. Alle saßen still um das Tuch. Die Joghurtschüssel war immer noch voll. Über das Tuch zerstreut lagen die dünnen Brotstücke. Alles sah genau so aus wie es vor der Vorführung von Knäuel-Onkels Schlangenfang-Spiel gewesen war. Nur das Licht der Petroleumlampe hatte sich verändert, es flackerte aus Mangel an Brennstoff. Auch wenn alles durcheinander geraten war, blieb die Welt für mich greifbar und hielt mich. Alles konnte wieder geregelt und neu geordnet werden. Sogar den abschreckenden Umständen der Reise und dem stechenden Schmerz der Vaterlosigkeit konnte ich standhalten. Denn Sima Khanoom, meine Mutter, mit einem kurdischen Kopftuch um den Hals, das ihr überhaupt nicht stand, lebte noch, saß neben mir und streckte mit viel Weh und Ach ihre Beine aus und sagte: »Um Gottes Willen, schau mal, das Licht. Das von der Petroleumlampe. Es verglimmt. Der Docht verbrennt bald völlig, weil nicht mehr genug Öl in der Lampe ist. Auf so ein Licht kann nur A Sardar schwören!«
Alle starrten auf die Petroleumlampe, als ob bisher niemand im Zelt die beängstigende Finsternis wahrgenommen