7.
Abbas Agha haute mit voller Kraft auf den Tisch und brüllte noch einmal mit Omar Sharif-Stimme: »Antworte mir! Warum redest du nicht? Ich will wissen, ob ihr überhaupt Wert auf mein Wort, meine Ehre, auf mich persönlich legt oder nicht? Oder ist nur das wichtig, was Sima sagt, was sie tut?«
Aus einer Mücke einen Elefanten zu machen, ist die Stärke meines Vaters. Außerdem besitzt er großes Talent, die Dinge zu verkomplizieren. Er bauscht eine Lappalie so lange auf, bis man nicht mehr weiß, auf welchen Aspekt des Themas man eingehen soll. Deshalb schwieg ich auch weiterhin. Während ich über eine vernünftige Antwort grübelte, kam es mir in den Sinn, dass Abbas Agha heute Nacht wieder von seiner Schaufel träumen könnte, um ihr sein Herz auszuschütten.
Mein Vater musterte meine Lippen eine Weile und da er endlich begriff, dass ich sie nicht auseinander bekommen würde, ließ er von seinem Gebaren ab. Er blickte zur Decke hinauf und sagte mit seiner eigenen, ratlos klingenden Stimme: »Oh weh, schau mal, wie einfach meine Familie zerstört wird, mein warmer und heller Familienhort.«
Obwohl er den Satz im Passiv formulierte, lag es auf der Hand, dass er mich und meine Mutter als Zerstörerinnen seiner Familie ansah.
Plötzlich ging die Tür auf und Ryan Djahn betrat die Wohnung. Abbas Aghas Augenlicht war seines Vaters letzte Rettung. Hilfe suchend blickte er ihn an: »Reza Djahn, komm du und sprich mit diesen Damen. Ich hab mir den Mund fusselig geredet. Aber sie haben wohl Knöpfe in den Ohren.«
Tatsache war, dass er kein vernünftiges Wort mit uns geredet hatte. Was er reden nannte, war nackte Omar Sharif-Drohung. Eine Weile versuchte er auch, uns seinen Willen mit der heroischen Autorität eines Dash Akoll aufzuzwingen. Dazu kam, dass er immer wieder Sima Khanoom beschuldigt, seine Würde und Ehre verletzt und geraubt zu haben.
Das »Augenlicht« des Abbas Agha würdigte uns keines Blickes. Es war tief beleidigt, weil es nicht mehr Reza gerufen werden wollte. Ryan Djahn kam rückwärts auf uns zu, während er mit einer Hand wie immer den Ring an seiner Augenbraue drehte und mit der anderen die Fernbedienung betätigte, um von einem Fernsehkanal zum anderen zu zappen. Sein Hosenbund hing ihm auf dem Po, der aufgeblähte Zwickel reichte bis zum Knie.
Meine Mutter ergriff ihren Koffer und ehe sie ihn hochhob, fragte sie Ryan: »Wo bleibt denn deine Begrüßung
Abbas Agha unterbrach sie rasch: »Ja! Bitte schön! Die schlechten Manieren hat er von den Deutschen, von diesem grünäugigen Jungen, Kai. Wie ein Esel platzt er immer hier ins Haus, ohne auch nur ein einfaches Hallo zu sagen. Und jetzt willst du auf Biegen und Brechen Deutsche werden?«
Ryan drehte sich kurz zu uns um und warf Abbas Agha einen düsteren Blick zu, weil er seinen Freund beleidigt hatte, hielt aber den Mund. Sima Khanoom grinste, nahm den Koffer und sagte: »Okay. Ich gehe jetzt. Redet ihr zuerst miteinander. Ich erfahre dann alles, wenn ich mich demnächst bei euch melde.«
Ich war bereit, meiner Mutter zu folgen, und zerrte entschlossen am Reißverschluss des Sackes, in den ich all meine Sachen gestopft hatte. Sobald Ryan merkte, dass es ernst war, hörte er abrupt auf, den Ring an seiner Augenbraue zu drehen und die Programme umzuschalten. Mein Bruder, der sich immer lässig und leger ausdrückte, sprach diesmal höflich und gefasst, halb auf persisch, halb auf deutsch: »Wohin gehen Sie denn wollen? Sie haben in dieser fremden Stadt
Meine Mutter stand schon am Ausgang. Ohne sich umzudrehen, erklärte sie der Wohnungstür: »Wohin schon? Ins Frauenhaus!«
Erstarrt hielt ich mit dem Schließen des Reißverschlusses inne. Augenblicklich beschloss ich, Peters Rat zu folgen und Abstand von meiner heiligen Familie zu nehmen, bevor sie mein Leben völlig zerstörte. Peter würden die Worte fehlen, wenn er hörte, dass meine Mutter Zuflucht im Frauenhaus gesucht hatte.
Ryan Djahn drehte vor Ratlosigkeit dieses Mal den Ring an seiner Unterlippe. Darin erschöpfte sich die Weisheit von Abbas Aghas männlichem Erben. Mein Vater, der mit zwei Sprüngen am Ende des Flurs landete, um die Tür abzuschließen, rief entsetzt: »Wie bitte?! Wohin?! Wohin sonst alle geschlagenen Frauen gehen? Wir haben dich alle nur mit Samthandschuhen angefasst, oder? Warum willst du unsere Ehre absichtlich beschmutzen?«
Während meine Mutter mit Abbas Agha um den Schlüssel rang, den er nach Abschließen der Tür in die Hosentasche zu stecken versuchte, schrie sie lauter: »Diese Ehre ist nur deine Ehre, nicht unsere. Außerdem, was ist schlimm am Frauenhaus? Auch das ist ein Teil der deutschen Kultur, die ich sowieso kennen lernen muss.« Und mit einem kräftigen Ruck riss sie meinem Vater den Schlüssel aus der geballten Faust.
Ich stieß Ryan Djahn an, der mittlerweile wieder mit seinem Augenbrauenring beschäftigt war, damit er Sima Khanooms Koffer in die Küche brachte. Ryan Djahn sprang auf und rutschte zur Tür, wobei seine Hosenbeine den Boden fegten. Schwermütig und um männliche Festigkeit seiner Stimmbänder bemüht, sagte er wie ein zimperliches Mädchen: »Wollen Sie uns wirklich verlassen? Was machen wir denn
Sima Khanoom, von Ryans Leid und Trauer unbeeindruckt, nahm sanft seine Hand, um ihn von der Tür fortzuziehen. Dabei sagte sie ebenfalls betrübt: »Ohne mich habt ihr es doch besser. Besonders diesem Abbas Agha geht’s dann hervorragend. Geh beiseite! Ich muss raus.«
Da begriff Abbas Agha plötzlich, dass meine Mutter wirklich entschlossen war, uns zu verlassen. Er nahm wieder Dash Akolls Gestalt an und schwor auf Gott und die Welt, dass Sima Khanoom ein falsches Bild von ihm habe, dass er Tag und Nacht arbeite, nur um die Wünsche seiner Familie zu erfüllen, um seinen Familienhort hell und warm zu halten. Besonders wolle er, dass Sima Khanoom glücklich und zufrieden sei … Und weiteres sinnloses Gerede, an das ich mich nun nicht mehr erinnern kann. Am Schluss versicherte er besorgt: »Glaub mir, ein Stachel in deinem Fuß ist für mich so schmerzvoll wie ein Metallpfahl in meinem eigenen Auge!«
Das war nicht nur für Sima Khanoom, sondern auch für Ryan Djahn und mich völlig neu. Staunen und tiefe Rührung ließen Tränen in Ryans Augen hervorschießen, die wiederum mich zum Handeln ermutigten. Um die katastrophalen Folgen zu verhindern, die ein Stachel im Fuß Sima Khanooms oder ein Metallpfahl im Auge von Abbas Agha verursachen könnten, schubste ich Ryan Djahn in Richtung unserer Mutter, damit er ihr um den Hals fiel. Ich selbst packte den Griff ihres Koffers. Ob Ryan tatsächlich über Sima Khanooms Weggehen entsetzt war oder seine Rolle wie ein versierter Schauspieler spielte, konnte ich in diesem Moment nicht genau abschätzen. An ihrem Hals hängend flennte er halb auf persisch, halb auf deutsch: »Um Gottes Willen, Mama, verlassen Sie uns nicht! Ohne Sie sind wir echt verloren!«
Hastig den Koffer an Abbas Agha vorbeizerrend, antwortete ich anstelle meiner Mutter laut: »Mach dir keine Sorgen, Ryan Djahn. Mama geht nirgendwohin. Papa sagte mir eben, dass er jetzt einverstanden ist, dass Mama Deutsche wird. Nicht wahr, Papa?!«
Abbas Agha murmelte eine Weile verwirrt vor sich hin. Doch er konnte kein klares Wort sprechen. Stattdessen stellte uns Sima Khanoom in aller Deutlichkeit eine neue Bedingung, die, wie ich befürchtete, die Aufführung des Streit-Koffer-Schlüssel-Flennen-Stücks in vier Akten automatisch wieder in Gang setzen würde: »Nur unter der Bedingung, dass euer Vater mich als Managerin seines Betriebs anstellt. Ich meine, nur auf dem Papier. Ich will im Einbürgerungsantrag bei der Frage nach meinem Beruf nicht Hausfrau eintragen müssen.«
8.
An jenem düsteren Dienstag, an dem uns Sima Khanoom ihre Bedingungen mitteilte, begann sie, Deutsche zu werden.