Eines Dienstags beschloss meine Mutter Deutsche zu werden. Fahimeh Farsaie. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Fahimeh Farsaie
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783943941562
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seinen traumhaft schönen blauen Augen anlächeln würde. Ich sehnte mich nach seiner klangvollen Stimme, besonders danach, dass er auf meine Frage, ob er mich liebe, mir als Zeichen seiner innigen Zuneigung auf persisch erwiderte: »Areh, eschteman!«

      Peter gibt sich Mühe bei diesen Worten und geht davon aus, dass er mir antwortet: »Ja, meine Liebe!« Tatsächlich aber sagt er, ins Deutsche zurückübersetzt: »Ja, mein Eiter!«

      Anfänglich versuchte ich, seine Aussprache zu korrigieren, und machte ihn darauf aufmerksam, dass es »äschghe inan« und nicht »eschteman« heißt. Doch weil er das, seinem exzellenten Verstand zum Trotz, einfach nicht aussprechen konnte, versuche ich nun, die persische Bedeutung des falsch ausgesprochenen Wortes zu vergessen. Es blieb mir ja nichts anderes übrig, und nach einiger Übung gelang es mir auch. Nicht weil ich klüger bin als Peter, nein! Sondern weil man erstens den Ausdruck »Ja, mein Eiter!« im Persischen eher selten als Liebeserklärung verwendet und weil zweitens in mir bei der Übersetzung ins Deutsche sofort eine synchrone Lautkorrektur aktiviert wird, sobald ich jemanden sprechen höre.

      Wahrscheinlich spielte meine besondere Zuneigung zur deutschen Sprache eine entscheidende Rolle bei der Anordnung der Sprachdateien in meinen Gedächtnisregalen – so könnte es Peter auch formuliert haben! Jedenfalls verdanke ich diese ausgeprägte Zuneigung wohl ausgerechnet der anfänglichen Abneigung meines Vaters der deutschen Sprache gegenüber, obgleich auch er sie ziemlich gut beherrschen lernen musste. Als Abbas Agha erstmals seine negative Einstellung der deutschen Sprache gegenüber auf mich zu übertragen versuchte, geschah dies zu einer Zeit, in der ich bereits feststellte, dass ich beim Deutschsprechen unheimlich schön wurde.

      Es geschah in den ersten Stunden, als Sima Khanoom und ich am Ende unserer Aliceschen Reise erstmals deutsches Territorium erreichten und an der Haltestelle Friedrichstraße, auf der Grenze von Ost- nach Westberlin ausgestiegen waren. Nach den wochenlangen Landstreichereien durch namenlose Wüsten, begleitet von Sardar-Schlangenfänger, waren wir endlich angekommen. Auch damals war es ein trüber Dienstag. Die Sprache, in der sich die Menschen in unserer Umgebung unterhielten, schuf eine fremdartige Geräuschkulisse.

      Noch nie zuvor hatte ich eine unterirdische Straße gesehen; erfreulicherweise zeigte sich hier aber keines der schrottreifen Verkehrsmittel, mit denen wir während unserer glühenden Odyssee gefahren waren. Die Station wimmelte vor Menschen, doch niemand schubste den anderen oder stieß gegen ein Kind. Ein Zug rauschte rauch- und lärmlos in einem tiefen, trockenen Bach dicht an einer Wand entlang. Als er bei uns anhielt, drängelte sich niemand vor, alle bildeten schweigend eine Schlange und stiegen erst ein, wenn sie an der Reihe waren. Wären hier nicht so viele Menschen, dache ich mir, könnte ich schön auf dem glatten Boden der unterirdischen Straße rutschen. Vor Angst, meine Mutter zu verlieren, hielt ich ihre Hand fest umklammert und entfernte mich keinen Schritt von ihr. Um mir gut zuzureden, beschrieb sie mir die Umgebung: »Keine Angst, meine Liebe. Schau mal, wie ordentlich und fein die Leute hin und her gehen. Sei sicher, dass ich dich nicht verliere! Außerdem ist das hier keine Straße, sondern eine Haltestelle. Es ist unmöglich, dass du mir abhanden kommst, und wenn, finde ich dich hundertprozentig wieder.«

      Ich war einigermaßen beruhigt. Erfreut glättete ich sorgfältig die Falten meines kurzen roten Rockes, den meine Mutter in Karachi gekauft hatte. Ich war eben im Begriff, meine ebenso neuen roten Schuhe mit Spucke zu polieren, als plötzlich ein Wüstenungeheuer vor uns erschien. Laut lachend tauchte es vor uns auf und riss meine Hand aus der meiner Mutter. Während es mich auf seine Schultern hob, redete es einige Worte in Säuglingssprache, die ich nicht verstand, weil ich vor Entsetzen wie am Spieß schrie. Seltsamerweise ließ meine Mutter weinend und lachend ohne Protest zu, dass die pompöse Männergestalt, als die sich das Ungeheuer entpuppte, mich, ihre wehrlose Tochter, von ihr trennte. Es handelte sich offensichtlich um den Versuch einer Kindesentführung, sie aber begehrte überhaupt nicht dagegen auf. Im Gegenteil! Sie hakte sich fröhlich bei dem Entführer unter und putzte ihre Tränen und ihre Nase am Ärmel des Mannes ab, der wie das Abbild der Geister meiner Großmutter, Mansureh Khanooms, aussah. Ich machte fürchterliche Anstrengungen, mich von seiner Schulter in Sima Khanooms Arme zu stürzen. Vergeblich! Schließlich gab er auf, packte mich mit einer Hand fest beim Nacken, hob mich aus der Wölbung seiner Schulter wie eine ungestüme Katze hoch und stellte mich auf den Boden. Schreiend klammerte ich mich an den Beinen meiner Mutter fest. Erst als ich ihre beruhigende Hand auf meinem Kopf spürte, hörte ich auf, mir die Seele aus dem Leib zu brüllen. Doch Sima Khanoom schenkte mir keine Aufmerksamkeit. Das Ungeheuer hatte sie im Griff, umarmte sie fest und küsste sie in aller Öffentlichkeit. Wäre mein Großvater da gewesen, hätte er mit einem Stockschlag sein Gehirn zerschlagen. Um meine Mutter zu retten, wollte ich wieder zu weinen anfangen. Doch sie befreite sich aus den Armen des Unbekannten, kniete sich vor mich hin und sagte: »Siehst du diesen Mann, Liebes? Das ist dein Vater. Dein Baba. Sag Baba Djahn. image«

      »Baba« kitzelte mich mit seinen dicken Fingern an der Nase und versuchte, sich in Kinderlauten, bischi-bouschi, mit mir zu unterhalten. Dann bestand er darauf, Baba genannt zu werden. Ich versteckte mich hinter Simas Beinen und ahmte meinen Großvater nach: »Hurensohn, Baba!«

      Beide brachen in Gelächter aus. Der Klang ihres Lachens war noch nicht im Bremsenquietschen des Zuges untergegangen, da tauchten zwei Polizisten vor uns auf. Entsetzt umarmte und drückte mich Sima so fest, als ob die Polizisten mich entführen wollten. Trotz der bedrohlich wirkenden Uniformen, der Waffen und Knüppel der Wachmänner fühlte ich mich in den warmen und gemütlichen Armen meiner Mutter ganz sicher. Einer von ihnen kam einen Schritt auf uns zu und sagte: »Ihre Ausweise, bitte!«

      Mein Vater wurde plötzlich leichenblass. Statt den Polizisten zu antworten, drehte er sich zitternd zu uns um und versicherte: »Keine Angst, keine Angst! image Euch passiert nichts! Es ist alles gut!«

      Später erfuhren wir, dass uns die Ordnungshüter nur routinemäßig hatten kontrollieren wollen, da in der unterirdischen Friedrichstraße zahlreiche Menschen- und Zigarettenschmuggler unterwegs waren. Jedes Mal, wenn Sima Khanoom von unserer Ankunft in Deutschland erzählt, macht sie Abbas Agha wegen seiner »unangemessenen Furcht und Verwirrung« dafür verantwortlich, dass die Männer uns verdächtigten. Nur seinetwegen, der die Polizei fürchtete wie der Teufel das Weihwasser, hätten sie uns aufs Revier mitgenommen.

      »Kommen Sie mit zur Wache!«, hatten sie befohlen.

      Auf dem Polizeirevier versuchte Abbas Agha laut und in gebrochenem Deutsch, unsere Lebensgeschichte zu erzählen. Die Bullen – so nennt Ryan die Polizei – verwandelten für mich einen Drehstuhl in ein exklusives Karussell und drehten mich darauf um die eigene Achse, während sie meinen Vater nach allen Regeln ihrer Kunst ausfragten. Abbas Agha dachte, wenn er lauter spräche und seine Rede mit Gesten untermalte, würden sie ihn eher verstehen. Wie ein Affe sprang er von hier nach da, zeigte völlig unvermittelt mit dem Finger auf Sima, dann wieder auf sich, baute sich unverhofft vor dem Schreibtisch auf, intonierte »Schaufel Schaufel« und begann ein imaginäres Loch auszubuddeln.

      Mein Vater schrie so laut, dass die Bullen nach einer Weile ungeduldig wurden. Plötzlich brüllte einer: »Ruhe!«

      Eine schwere Stille erfüllte das Zimmer. Die Beamten hörten auf, mich auf dem Stuhl zu drehen, und ohne ein Wort miteinander zu wechseln, verließen sie den Raum. Abbas Agha legte seinen Arm um Simas Schulter, die mit aller Macht versuchte, nicht in Tränen auszubrechen, und flüsterte ihr etwas ins Ohr. Beide waren so mit sich beschäftigt, dass sie mich vergaßen. Mir war bewusst, wie verzweifelt und wehrlos wir alle drei waren. Ich blickte in Simas Augen, die nun nicht mehr glänzten. Es kam mir vor, als ob sie nicht in der Lage wäre, mir oder sich selbst zu helfen. Um nicht loszuheulen, begann ich, einige Wörter, die mir im Gedächtnis geblieben waren, zu wiederholen: »Ausweis! Kommen Sie! Schaufel! Ruhe!«

      Abbas Agha schaute hoch und musterte mich mit einem trüben Blick. Ein blasses Lächeln öffnete seinen Mund. Wahrscheinlich war er stolz auf seine Tochter, die wie ein Papagei Wörter wiederholte. Nach einer Weile spannten sich seine Gesichtsmuskeln wieder an: »Lass diese verdammte Sprache! Du hast noch genügend Zeit, dich damit zu quälen. Um einen einfachen