»Bruder.«
Der Junge war verwirrt, begriff nicht, was da vor sich ging, argwöhnte, vielleicht nicht richtig gehört zu haben. Der Pascha sagte ihm kurz etwas ins Ohr, dann schlang er seine Arme um Bajicas Schultern und flüsterte diesem zu:
»Er ist mein Bruder, aber er ist auch dein Cousin.«
Dann wandte er sich erneut an alle:
»Euch ist klar, dass auch ich aus eurem Geschlecht bin. Ich wurde vor genau zwanzig Jahren aus der Herzegowina hierher gebracht, genau wie ihr. Ich bin aus der Familie Sokolović und einige von euch sind auf meinen Befehl hin hierher gebracht worden. Meinen jüngeren Bruder sehe ich seit seiner Geburt zum ersten Mal. Ist das nicht seltsam und verrückt?«
Mustafa sah ihn an, Augen und Mund weit aufgerissen. Auch Bajica betrachtete ihn nicht minder bestürzt. Hier, aus diesem Mund, nach so langer Zeit ihren nicht gänzlich vergessenen, aber total unterdrückten Nachnamen zu hören!
Die ganze Geschichte des Paschas, begriffen sie, zielte darauf sie zu ermutigen, auf die ihnen gebotene Gelegenheit, sich so gut wie möglich zu bilden, nicht zu verzichten, möglichst viel von dem Gebotenen zu nutzen und all das zu gegebener Zeit für die eigenen Ziele einzusetzen – welche das auch immer sein würden und wann auch immer sie auf den Plan treten mochten. Gerührt von ihrer Gegenwart und überwältigt von seinen Erinnerungen zeigte er ein gewisses Maß an Vertraulichkeit. Er bemühte sich um klare Worte, achtete aber gleichermaßen darauf, nicht zu offen zu sein. Er musste ihnen nicht sagen, was sie schon verstanden hatten: Dass sie sich maximal und bei jeder Gelegenheit untereinander helfen und unterstützen müssen. Dass sie nicht vergessen, woher sie sind, aber auch nicht das versäumen, was sie erwartet. Wenn sie dazu verdammt sind, eine andere Vergangenheit als Zukunft zu haben, mögen sie daraus etwas machen, wodurch sie sich, unverkennbar oder unauffällig, von allen anderen unterscheiden. Nur so würden sie den Frieden mit und in sich bewahren können. Denn, so hob er mit Nachdruck hervor, falls sie sich der Doppelexistenz, in die sie gedrängt wurden, nicht bewusst werden, werden sie nicht einer einzigen Versuchung widerstehen.
»Derjenige, der es schafft, sich über die eigene Zweiheit zu erheben, wird Unglück in Vorteil verwandeln können. Nicht wenigstens einen Elternteil zu haben, ist eine echte Tragödie. Beide zu haben, ist ein großes Glück, das täglicher Erinnerung wert ist. Vielleicht kommt es euch jetzt so vor, als wärt ihr ohne Eltern, aber bald werdet ihr sehen, dass ihr beide Elternteile habt.«
Der Pascha verhalf Bajica zu seiner ersten, jugendlichen Weisheit: Wenn man etwas nicht vermeiden kann, dann muss man sich damit konfrontieren.
Eine ganz eigenartige Folge des Besuchs von Deli Husrev Pascha kam zwanglos und ganz offen zum Vorschein. Nach seinem Fortgang begann das Dutzend auserwählter junger Burschen untereinander Serbisch zu sprechen, wobei alle stillschweigend die Regel einhielten, das Serbische nur außerhalb der Ausbildung zu benutzen, es aber nicht mehr zu unterdrücken. Und siehe da, was für ein Wunder! Niemand nahm ihnen das übel, geschweige verbot es ihnen gar! Und warum auch? Unvermeidlich war, und das wussten sie selbst auch, dass für alle die Zeit der Trennung kommen und nicht einer von ihnen dann mit sich selbst Serbisch sprechen wird. Das würde daher niemandem schaden.
KAPITEL III
Ich mag Definitionen, egal welche, nicht sonderlich (man erinnere sich nur daran, wie übertrieben oft dieses Wort in jedermanns Schulzeit auftauchte). Aber beim Thema des Vermischens von Literatur und Rechnen (wieder ein Wort aus der Schulzeit, das kleine Kinder in die höheren Sphären des Operierens mit Zahlen einführte) reifte in mir der unwiderstehliche Wunsch, Geld zu definieren. Und hier nun, zu welchem Schluss ich gekommen bin: Geld ist ein in Zahlen ausgedrückter Wert! Es scheint, dass man für diese Schlussfolgerung nicht viel Verstand benötigt. Könnte man dasselbe nicht auch über, sagen wir mal, die Dauer sagen: Die Jahre sind ein in Zahlen ausgedrückter Wert. Ha! Genau, wie man vieles andere mit völlig derselben Definition ausdrücken könnte. Aber nicht darin liegt der Sinn. Auch wenn es richtig ist, dass diese »Weisheit« auf viele andere Begriffe und Erscheinungen übertragen werden kann, heißt das nicht, dass die ursprüngliche Definition nicht richtig ist und auch nicht, dass die Existenz anderer sie aufhebt.
Was will ich sagen? Na, dass Wert nicht gleichzusetzen ist mit Qualität. Daher haben die Aussagen »das Geld ist ein in Zahlen ausgedrückter Wert« und »das Geld ist eine in Zahlen ausgedrückte Qualität« nicht dieselbe Bedeutung. Wir kommen zu der so genannten Pointe. Stellen sie sich vor, gewisse Autoren würden nachgeben und das in Zahlen ausgedrückte Wertesystem (der Platz ihres Buches auf der Top-Liste sozusagen) gleichsetzen mit der Qualität dieses Buches. Sie wüssten nicht, wem sie schwerer verzeihen würden: der Eitelkeit des Autors oder denen, die diese monströsen Hit-Listen erfunden haben.
Diese Phänomene wären nicht besorgniserregend, wenn sie im Bereich der Phänomene verbleiben würden. Sie sind inzwischen viel mehr als das, und am Anfang sind sie nur eine Modeerscheinung und eine Tendenz, aber mit der Zeit verwandeln sie sich in einen richtigen Plan, in ein Programm, alles mit dem Ziel, zur Regel zu werden. Von daher darf man ihnen nicht Zufälligkeit, Leichtfertigkeit und schnelle Vergänglichkeit zuschreiben. Ihr Ziel ist es, ein dauerhafter Wert zu werden und zu bleiben. Zahl ist gleich Qualität.
Und wie sieht das in der Praxis aus? Neulich wohnte ich tatsächlich dem Vortrag einer bekannten Autorin zur Verteidigung der Zahlen bei. Um zu beweisen, dass ihr erster Platz auf der Liste der meistgelesenen Bücher in jeder Hinsicht unantastbar ist, egal, wie viele Leute ihr Buch gelesen hatten, was ihr übrigens auch niemand streitig machte, verglich sie sich mit den geistreichsten, besten und wichtigsten Autoren des Jahrhunderts! In ihrer egomanischen Arbeit hatte sie entsprechende Stichworte wie etwa die Platzierungen der Bücher dieser verdienstvollen Autoren auf den damaligen oder historischen Top-Listen, weder gesucht noch gefunden. Genau genommen konnte sie auch nichts finden, denn zu jener Zeit existierten solche Listen gar nicht. Die Autoren eroberten ihre Plätze durch Verdienste und nicht numerisch. Also, meine Botschaft ist klar. Die Frau Autorin war beleidigt, weil sich zuvor jemand erstmals getraut hatte, ihren eitlen Wunsch in Frage zu stellen, dass ihr der erste Platz und der Platz des Besten gebührt. Sie hatte diese Formel mit einer anderen, verführerischeren verwechselt: Dass der erste Platz auch der beste sei.
Und um alle Zweifel auszuräumen: Der Platz des Ersten kann wirklich auch der beste Platz sein, aber das heißt auf keinen Fall, dass es auch der Platz des Besten ist.
3. KAPITEL
Die größte und schwerwiegendste Folge des Paschabesuches (wie sich herausstellte, ein Auskundschaften) war wenige Monate später die Ankunft seiner Hoheit selbst. Jetzt aber nicht nur in seinem Serail, sondern auch bei den ausgehobenen Knaben. Genauer gesagt, diesmal wurde ihnen gestattet, vor dem großen Sultan zu erscheinen. Sein Großmut erschöpfte sich in der Geduld, sie alle, wie sie da saßen, mit einem Blick zu messen, eine Handbewegung zu machen, die ihnen bedeutete, dass sie frei seien, auf dem Diwan Platz zu nehmen und darauf zu warten, zu dem Dutzend Auserwählter zu gehören, die ihm einzeln vorgestellt werden. Das taten ihr Lehrer, was sein Recht war, und Deli Husrev Pascha als Mann aus der Gefolgschaft des Herrschers, offensichtlich ein Mann mit einer besonderen Vertrauensposition.
Der Pascha mit seinem unerschütterlichen Selbstvertrauen sprach über jeden Burschen gesondert: Von wo man ihn gebracht hatte, aus welcher und was für einer Familie er stammte, wofür er in der Ausbildung besondere Begabung zeigte und wo seiner Meinung nach Bildung und Ausbildung fortgesetzt werden sollten. So erfuhr Bajica vor dem Sultan, dass sein Schicksal so geplant war, dass er an den obersten Herrscher gebunden sein würde: im kaiserlichen Serail in Istanbul!
Nur ein einziges Mal hatte er die Gelegenheit, dem Blick des Sultans zu begegnen und dieser ließ ihn erstarren. Er sah eine seltsame Verbindung von Gleichgültigkeit und Interesse, aber vor allem eine eisige Kälte, die wahrscheinlich jene gewaltige Entscheidungsmacht mit sich brachte: angefangen bei den Problemen unbedeutender Einzelschicksale bis zur Gestaltung der Zukunft ganzer Stämme und Staaten. Doch wiederum war er immer noch zu sehr Soldat, um kein Interesse an diesen gebildeten Sklaven zu zeigen, von denen vielleicht morgen auch sein Leben abhängen könnte. Bajica hatte man gelehrt,