Also, die Ursache dafür, mich mit Bajo Sokolović zu befassen, beruhte auf der Erkenntnis, dass dieser im Zusammenhang mit der berühmten Knabenlese zu den Türken gebracht wurde, als er bereits achtzehn Jahre (!) alt war, und nicht als Kleinkind, das kaum in der Lage war, sich zu erinnern woher es stammte. Ich fragte mich, warum man ihn erst so erwachsen als künftigen Janitscharen ausgewählt hatte? Für die Türken war es eine extrem ungewöhnliche Geste, Kinder von serbischen Eltern zu nehmen, die nicht ganz klein oder klein genug waren. Die Türken verboten ihnen während der Ausbildung für ihre Armee nicht, sich ihrer Wurzeln bewusst zu sein, doch setzten sie zu Recht stets darauf, dass Kinder mit spärlicherer Erinnerung an die Heimat auch weniger an diese gebunden sein würden.
Und schließlich sei hier mein echter Anlass und endgültiger Grund genannt, mich an das Schreiben über Sokollu Mehmed Pascha zu machen. Als ich alles durchforstet hatte, was sich über Leben und Zeit jenes interessanten Mannes finden ließ, was aber noch nicht ausreichte, um mich davon zu überzeugen, mit dem Schreiben zu beginnen (noch waren weitere zwei Bücher als Option im Spiel), sollte Folgendes den endgültigen Ausschlag geben. Nach allem also, sozusagen nachträglich, fand ich untrügliche Beweise (Schriften und Zeichnungen, Kommentare und Beschreibungen aus mehreren Quellen), dass Mehmed Pascha in Belgrad um 1575 unter anderem die weithin berühmte Karawanserei und den überdachten Basar genau unter den Grundfesten des Hauses errichtet hatte, in dem ich im Jahr 2005 wohnte und in dem ich auch heute lebe! Genau hier und nirgendwo anders! Ein Zufall? Wenn ich »errichten« sage, meine ich, dass sie nach seinem Willen und seinen Befehlen erbaut und aus privaten Quellen finanziert wurden. Das nannte man Stiftungswesen, aber im alltäglichen Leben hieß es »er errichtete«. Ausgeführt wurde der Bau allem Anschein nach abermals vom Baumeister Sinan.
Nach dieser Entdeckung musste ich, ob ich wollte oder nicht, ob das übertrieben war oder nicht, mich dazu berufen fühlen, etwas über jene zwei Männer in einem Körper zu erzählen. Das Problem der Doppelidentität zog mich anfangs lediglich als Problem einer doppelten nationalen Identität und Relgion eines Menschen in seinen Bann. Mit dem Zugang über das Leben von Sokolović zu Mimar Sinan drängte sich die Wahrscheinlichkeit der doppelten Verdopplung in zwei Männer auf. Also, die Doppelidentität zweier Männer in einem Körper konnte unvorhergesehen allerhand bedeuten: Sowohl dass es sich um die Spaltung einzelner Individuen in zwei Persönlichkeiten handelt, aber auch um die völlige (oder hinreichende) Ähnlichkeit zweier Personen, die deshalb zu einer verschmolzen waren!
Doch zurück zu meiner Adresse. Die Grundfesten dieses Hauses in Dorćol, dessen Bau nach Plänen des Architekten Petar Bajalović 1914 (schon wieder der Erste Weltkrieg!) begonnen – im sogenannten serbisch-byzantinischen Stil mit Elementen der Sezession, einer ansonsten in der Belgrader Architektur selten verwendeten Kombination – und 1924 abgeschlossen wurde, könnte ich als Ort, von dem aus ich erzähle, bezeichnen, im wörtlichen und im übertragenen Sinn. Wenn ich dazu jene schriftstellerisch freie und mitunter dreiste Haltung einnehme, dann könnte ich noch etwas ergänzen. Das Erbe der osmanisch-islamischen Architektur eines Sinan ist nicht das einzige Bindeglied zwischen Vergangenem und Gegenwärtigem. Es gibt weitere: etwa das Spiel mit den Ähnlichkeiten der uralten serbischen Vornamen Bajo / Bajica – des künftigen Großwesirs des Osmanischen Reiches, das gerade zu seiner Zeit das stärkste Imperium im Zenit der Macht war – mit den Nachnamen des serbischen Architekten Bajalović und des Autors dieses Buches V. B. (dessen Nachname vor der Germanisierung in der Wojwodina durch Maria Theresia dem Nachnamen Bajalović ähnlicher war als dem Vornamen Bajica). Dann mein Haus, das auf den Spuren einer ehemals »feindlichen« Kultur errichtet wurde, in der aktuellen Straße des Zaren Dušan, genannt der Starke, benannt nach dem serbischen Herrscher des 14. Jahrhunderts, der Serbien nicht nur im Hinblick auf die Ausdehnung seines Territoriums zu einer einmaligen Größe machte, wie übrigens auch Süleyman der Prächtige die Türkei zwei Jahrhunderte später, mit Hilfe von Bajica / Sokollu Mehmed Pascha. Das ist also das Gebäude, aus dem ich spreche, und auf dessen viereckigem Turm ganz oben auf der Spitze mit großen Buchstaben geschrieben steht, dass es der orthodoxen Gesellschaft des Heiligen Sava gehört(e) (welcher der größte serbische Heilige, aber auch wichtigste Geistliche ist). Und so weiter (zum Beispiel erwähne ich nicht noch einen serbischen, allerdings literarischen Konquistador, der im 20. Jahrhundert, wie er selbst zu sagen pflegte, eine »Armee von Lesern« in der ganzen Welt eroberte und in dem Jahrhundert außerhalb seines Landes tatsächlich als bedeutendster serbischer Gegenwartsschriftsteller galt, und das mit derselben Adresse, von der aus ich mich melde).
Die Geschichte mag besonders das Größte, Stärkste, Mächtigste, alle Superlative. Ein Buch hat allerdings andere Aufgaben: Etwa zu fragen, ob einige der Superlative aus dem vorangegangenen Passus hier zusammengeprallt oder zusammengetroffen sind? Und warum? Falls da ein »ja« wäre, hat das Buch auch nach dem Wie und Was vorher und nachher zu fragen, und abermals nach dem Wie, und vielleicht auch nach dem Warum… Im vorliegenden Fall ist sogar die Bezeichnung des Ortes, an dem ich meine Überlegungen anstelle, der Belgrader Stadtteil Dorćol, türkischer Herkunft (dört-yol), was vom Wort her aussagt, dass das ein Ort der Begegnung, des Beisammenseins und des Verweilens ist (war), denn im Türkischen bedeutet es vier Wege oder Kreuzung.
Wenn ich also zusammenfasse: das Buch befasst sich mit dem Sammeln von Wahrscheinlichem und scheinbar Nebensächlichem.
Während die Geschichte auch weiterhin beharrlich wie ein Denkmal steht.
VOR DEM ENDE
Nachdem er seine Familie aus der Kleinstadt zum Bruder aufs Dorf gebracht hatte, ging der Vater davon aus, die Rettung vor den türkischen Versuchen des Fortbringens kleiner serbischer Kinder irgendwohin in die Türkei, selbst bis an den Hof, zum Zwecke ihrer Ausbildung zu Elitekriegern des Reiches sei gelungen. Aber er wusste nicht, dass der herzegowinische Sandschak Beg Skender Ornosović aus Konstantinopel den Befehl erhalten hatte, angefangen im Jahr 1515 und in den darauf folgenden Jahren in Bosnien und der Herzegowina durch Knabenlese »eintausend Knaben auszuheben und sie den Serails zuzuführen …« 1 Doch das bedeutete zusätzliche Sorgen: Um die hohe Quote an besonders begabten Kindern zu erfüllen, die nach der Einnahme von Belgrad 1521, bei dessen Belagerung ziemlich viele Soldaten zu Tode kamen, abermals erhöht worden war, musste der Beg auch ältere Kinder als bis dahin üblich ausheben. Mit welcher Strenge ihm diese Pflicht auferlegt worden war, zeigte sich in der Unerbittlichkeit, mit der dieses Mal den Eltern, die wie zuvor auch ihre Kinder in den Wäldern versteckten, und selbst jenen, die sie absichtlich verstümmelten in der Hoffnung, dass sie so für das Reich nicht mehr brauchbar wären, nicht verziehen wurde. Die Agas ließen auch in solch drastischen Fällen nicht davon ab. Sie suchten sogar alle Klöster heim und trennten jene jungen Burschen vom Buch, die sich anschickten Mönch zu werden. Unter ihnen war auch Bajo Sokolović, ein orthodoxer Seminarist, längst kein Kind mehr, ein gut gebauter Jüngling von fast achtzehn Jahren, der gewaltsam aus dem Kloster Mileševa in das Dorf Sokolovići zurückgebracht wurde. Neben seiner Belesenheit war noch etwas ungünstig für ihn: Er stammte aus einer Adelsfamilie. Kinder aus solchen Familien waren als Nachwuchs außerordentlich begehrt. Die Tatsache, dass er sich das christliche Wort Gottes angeeignet hatte, stellte für die Osmanen ganz und gar kein Hindernis dar. Vater Dimitrije erfuhr sogleich von der Besonderheit seines Falls: Der Anführer der Janitscharen namens Mehmed Beg gab zu, dass im Falle seines