Sophienlust Staffel 15 – Familienroman. Susanne Svanberg. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Susanne Svanberg
Издательство: Bookwire
Серия: Sophienlust
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783740980573
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seine Tochter. »Wer weiß – in einem Jahr hast du vielleicht ein kleines Brüderchen.«

      »Bestimmt?« Evi sah Betti an.

      »Dein Vater hat gesagt ›vielleicht‹. Du musst Geduld haben«, erwiderte Betti ein wenig verlegen. »Aber eines kann ich dir versprechen: Wir werden Johannisbeersträucher anpflanzen. Schon im nächsten Sommer kannst du sie abernten.«

      *

      Andrea von Lehn war an diesem Abend etwas deprimiert. »Nun sind sie also fort«, sagte sie. »Das Haus kommt mir ohne Betti und Evi so still vor.«

      Im selben Augenblick ertönte aus dem Kinderzimmer ein Plumps und gleich darauf ein markerschütterndes Geschrei.

      »Still hast du gesagt?«, fragte Hans-Joachim mit hochgezogenen Brauen.

      Andrea hörte diese Bemerkung nicht mehr. Sie war bereits hinübergelaufen und hatte Peterle vom Fußboden aufgehoben.

      »Er ist aus dem Bett gefallen«, teilte sie ihrem Mann mit, der ihr gefolgt war.

      »Er ist heute so unruhig. Wahrscheinlich fehlt ihm Betti.«

      Andrea legte ihren Sohn wieder ins Bett und deckte ihn zu. »Betti wird uns allen sehr fehlen«, fuhr sie dann fort.

      »Ja. Wir werden uns nach einem anderen Mädchen umsehen müssen«, meinte Hans-Joachim.

      »Das wird nicht einfach sein.«

      »Jedenfalls werden wir leichter einen Ersatz für Betti finden als Helmut Koster.«

      »Er tut mir leid«, sagte Andrea. »Ich bin so froh, dass Betti glücklich geworden ist, aber Herrn Koster bedaure ich trotzdem.«

      »Auch er wird eines Tages sein Glück finden«, erwiderte Hans-Joachim.

Cover Der kleine Mund ist stumm

      Frau Rennert, die mütterliche Heimleiterin von Sophienlust, setzte ihre Brille ab. Tante Ma, wie sie von allen Kindern genannt wurde, war an diesem Abend außergewöhnlich müde.

      Nach einem heißen, schwülen Tag war bei Einbruch der Dunkelheit ein schweres Gewitter niedergegangen. Es hatte gedonnert, geblitzt und schließlich wolkenbruchartig geregnet. Im Park von Sophienlust hatten sich die Wassermassen zu einem riesigen See gestaut, sodass der alte Justus im strömenden Regen hinausgelaufen war, um die zugeschwemmten Abflüsse zu reinigen.

      Für die Kinder von Sophienlust war dies natürlich ein so aufregendes Erlebnis gewesen, dass sie nicht ins Bett gewollt hatten. Sie hatten sich die Näschen an den Scheiben plattgedrückt und halb ängstlich, halb bewundernd dem gewaltigen Naturschauspiel zugesehen. Obwohl dieses schlimme Unwetter Frau Rennert selbst nicht ganz geheuer gewesen war, hatte sie dafür gesorgt, dass keine Panik aufgekommen war, dass sich keines der Kinder gefürchtet hatte. Jetzt trat die Heimleiterin ans Fenster, um noch einmal in den weitläufigen Park zu sehen. Der riesige Regenwassersee war verschwunden, doch die Wege glänzten noch immer nass in der Dunkelheit. Man hörte, wie das Wasser von den vielen alten Bäumen, die ringsum das ehemalige Herrenhaus standen, tropfte. Doch was war das? Zu so später Stunde kam noch ein Auto über die Zufahrtsstraße zum Haus?

      Frau Rennert trat ins Zimmer zurück, um hastig nach ihrer Brille zu greifen. Tatsächlich! Eben rollte der Wagen auf den Parkplatz. Im Schein der Laternen konnte sie erkennen, dass es sich um ein Polizeifahrzeug handelte. Ganz deutlich war das Blaulicht auf dem Dach zu sehen. Inständig hoffte die mütterliche Frau in diesem Moment, dass ihre Schützlinge bereits schliefen. Denn dieser Besuch würde neues Aufsehen erregen. Dann würde es möglicherweise die halbe Nacht hier keine Ruhe geben. Eilig knöpfte Frau Rennert ihre Bluse wieder zu. Sie dachte nicht mehr an ihre bleierne Müdigkeit, sondern überlegte, was wohl der Grund dafür sein mochte, dass die Polizei noch so spät kam. Erstaunlich flink lief sie die Treppe hinunter. Ob das Unwetter in Sophienlust irgendwo Schaden angerichtet hatte?

      Angstvoll schloss Frau Rennert das Portal auf. Doch was sie dann im Schein der Laternen sah, ließ sie alle Sorge um den Besitz von Sophienlust vergessen. Da kam ein uniformierter Polizist mit langen Schritten durch den jetzt nur noch schwach rieselnden Regen. Er trug etwas in Decken Gehülltes auf dem Arm.

      Frau Rennert wusste sofort, dass es ein Kind war, das man in wärmende Decken gehüllt hatte. Nur ein Kind wurde so behutsam und vorsichtig getragen.

      »Mein Gott«, murmelte die Heimleiterin. Die Tatsache, dass ein Polizist dieses Kind brachte, sagte ihr schon, dass es allein, ohne Angehörige sein musste. Was mochte wohl geschehen sein?

      Frau Rennert trat etwas zurück, um den Fremden ins Haus zu lassen.

      »Darf ich?«, keuchte er. Das Regenwasser lief ihm übers Gesicht. Er schien völlig durchnässt zu sein.

      »Kommen Sie herein.« Frau Rennert knipste die große Deckenlampe in der Halle an. In deren Schein erkannte sie das Grauen in den dunklen Augen des Mannes. Es musste etwas Furchtbares geschehen sein. Etwas, was selbst einem Mann, der daran gewöhnt war, Zeuge schlimmer Vorfälle zu werden, Schrecken einflößte.

      »Ich bin Hans Strasser und gehöre zum Verkehrsstreifendienst der Maibacher Polizei. Ich habe hier ein kleines Mädchen und möchte Sie bitten, das Kind aufzunehmen, bis …« Strasser zog ein wenig die Achseln hoch, »… ja, bis sich Angehörige melden.«

      Frau Rennert machte eine einladende Handbewegung zu der Sesselgruppe hin. Normalerweise fällte sie nie eine Entscheidung, ohne Denise von Schoen­ecker, die das Kinderheim Sophienlust für ihren Sohn Nick verwaltete, zuvor um Rat zu fragen. Doch jetzt wollte sie die Familie von Schoenecker, die auf dem benachbarten Gut Schoeneich wohnte, nicht in ihrer wohlverdienten Nachtruhe stören.

      »Ich habe schon mehrfach von Sophienlust gehört und erfahren, dass es die Kinder hier besonders gut haben. Deshalb bringe ich die Kleine hierher und nicht ins Maibacher Waisenhaus. Ich hoffe doch, Sie haben Platz?« Hans Strasser sah Frau Rennert bittend an. Irgendwie hatte man den Eindruck, er tue in diesem Fall mehr als seine Pflicht.

      »Wir haben immer Platz für dringende Fälle«, antwortete die Heimleiterin. »Ich bin überzeugt, dass Frau von Schoenecker nichts dagegen hat, wenn das kleine Mädchen bei uns bleibt.«

      Dunkel erinnerte sich Hans Strasser an eine wunderschöne junge Frau, die er vor einigen Jahren auf einer Wohltätigkeitsveranstaltung in Maibach kennengelernt hatte: Denise von Schoenecker.

      »Sophienlust gehört ihrem kleinen Sohn, nicht wahr?«, erkundigte er sich.

      »Oh, unser Nick ist inzwischen schon fünfzehn und im Begriff, sich in einen sehr selbstbewussten jungen Mann zu verwandeln. Seine Urgroßmama hat ihm Sophienlust vererbt und bestimmt, dass ein Heim für elternlose Kinder aus dem Gut werden soll.«

      Sehr behutsam setzte Hans Strasser jetzt seine Last in einen Sessel und öffnete die Decke.

      Ein völlig durchnässtes kleines Persönchen kam zum Vorschein. Es hatte langes blondes Haar, große dunkle Augen und ein hübsches Gesichtchen. Wilde Angst und panisches Entsetzen spiegelten sich in den ausdrucksvollen Kinderaugen. Das war so auffällig, dass Frau Rennert unwillkürlich erschrak. Sie hatte schon viele verängstigte Kinder in Sophienlust gesehen, doch noch nie war die Furcht in einem Kindergesicht so grenzenlos gewesen.

      Die mütterliche Frau strich liebevoll über den blonden Scheitel. »Hab keine Angst«, flüsterte sie. »Hier geschieht dir nichts. Wir helfen dir, kleine …« Fragend sah sie auf den Verkehrspolizisten.

      »Anja heißt sie. Anja Möllendiek«, half er rasch aus.

      Das Kind presste beide Ärmchen vor das Gesicht und verdeckte damit die Augen. Der kleine Mund war fest geschlossen. Kein Laut kam über die blassen, blutleeren Lippen.

      »Liebe kleine Anja, du darfst nicht traurig sein. Morgen wirst du die Kinder kennenlernen, die in Sophienlust zu Hause sind.«

      Voll Zärtlichkeit legte Frau Rennert den Arm um das kleine verängstigte Geschöpf. Alles