Die verlorene Vergangenheit. Stefan Bouxsein. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Stefan Bouxsein
Издательство: Bookwire
Серия: Mordkommission Frankfurt
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783939362074
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schmiedeeiserne Tor zur Villa Tetzloff öffnete sich automatisch, Siebels lenkte den BMW wieder über das gepflegte Grundstück und parkte auf dem Kiesweg vor dem Haupteingang. Bogner erwartete sie bereits und Siebels fragte sich, welche Aufgaben Bogner noch alle erfüllte, außer dem Chauffieren seines Chefs.

      »Herr Tetzloff erwartet Sie in der Bibliothek.«

      Sie folgten dem hageren Mann, er musste schon an die sechzig sein, sein Auftreten ließ eine unabdingbare Loyalität zu seinem Arbeitgeber erahnen. Ständig hielt er sich im Hintergrund auf, er schien immer auf dem Laufenden zu sein, erlaubte sich aber keinerlei Reaktionen, wenn Tetzloff sich mit den Beamten unterhielt. Die Engel am Brunnen spuckten ihr Wasser in einer gleichmäßigen Fontäne aus, Till kam es so vor, als spuckten sie heute in einem größeren Bogen. Bogner führte die beiden wieder hoch in die obere Etage, dort nahm er den rechten Flur, sie folgten ihm schweigend bis zum Ende des Ganges. Er öffnete die Tür, sie betraten dunkelbraunes, gewienertes Parkett, hohe Bücherregale schmückten die Wände, vor dem Fenster stand eine kleine Sitzgruppe. Tetzloff saß in einem der Ledersessel, in der Mitte ein kleiner runder Tisch, darauf ein Karton.

      »Vielen Dank, dass Sie es einrichten konnten. Nehmen Sie doch Platz.«

      Bogner verließ schweigend die Runde. Siebels warf einen Blick in den Karton. Rotes Papier, beschrieben mit schwarzer Tinte.

      »Das sind die Briefe, von denen ich Ihnen am Telefon erzählt habe. Nachdem Sie gestern gegangen waren, habe ich viel an Simone gedacht. Ich versuchte mir vorzustellen, wo sie ist, wie es ihr ergeht. Ich stellte sie mir vor, gefangen in einer kleinen Waldhütte, gefesselt und geknebelt. Dann kam mir ein dunkler, feuchter Kellerraum in den Sinn, eine Matratze, auf der Simone liegt und weint. Ich versuchte mich zu erinnern, was ich von anderen Entführungen schon gehört oder gelesen hatte. Ich dachte an ein Erdloch, nur notdürftig mit Brettern unterstützt, kalt und unbequem. Ich fragte mich, ob sie geschlagen wird, ob sie Nahrung bekommt, ob sie unter Drogeneinfluss steht. Je mehr ich darüber nachdachte, desto sinnloser kam es mir vor, einfach nur zu warten. Nichts tun zu können, das machte mich fast wahnsinnig. Ich bin im ganzen Haus herumgelaufen, habe mich an den Plätzen aufgehalten, an denen sich Simone am liebsten aufgehalten hat. Im Untergeschoss, da haben wir einen Pool und eine Sauna, dahin hat sie sich oft zurückgezogen. Oder in ihrer kleinen Leseecke oder draußen, auf der Terrasse, da sitzt sie im Sommer gerne. Dann bin ich an ihren Kleiderschrank gegangen, ich wollte einfach ihre Kleider berühren, daran riechen, mich mit ihr verbinden, wenn Sie das verstehen. Da fand ich dann diesen Karton, erst ist er mir gar nicht aufgefallen, ich dachte, es wären Schuhe drin. Aber dann habe ich doch einen Blick reingeworfen und fand diese Briefe hier. Sie sind alle von derselben Person verfasst. Ich habe sie alle gelesen. Der, der sie geschrieben hat, muss verrückt sein.«

      »Gab es sonst keine Post? Von Bewunderern? Oder von Mädchen, die von einer Karriere als Model geträumt haben?«

      »Doch, natürlich. Das hat aber aufgehört, nachdem Simone und ich geheiratet hatten. Sie bekam Unmengen von Briefen und kleinen Geschenken. Die meisten Briefe hat sie gar nicht gelesen. Die wurden von vornherein von der Agentur aussortiert. Sie wurde von einer Agentur betreut. Die haben ihre Termine gemacht und die Verträge ausgehandelt. Von den Briefen, die sie doch persönlich bekam, hat sie die schönsten behalten und den Rest weggeschmissen. Als sie hier bei mir eingezogen ist, hat sie aber auch die gesammelte Fanpost entsorgt. Das hatte sie mir jedenfalls erzählt. Nur die hier, die hat sie mir verschwiegen und behalten. Ich frage mich bloß, warum.«

      Tetzloff griff in den Karton, zog ein rotes Blatt Papier heraus und gab es Siebels, der von den Zeilen förmlich angesogen wurde.

       Hallo Simone,

       ich bewundere gerade die Fotos, die letzten Monat in Venedig von dir gemacht wurden. Du wirst immer besser. Ich bin erstaunt, dass du dich ständig weiterentwickelst, obwohl du in meinen Augen schon perfekt warst.

       Es ist nur zu schade, dass alle Welt bloß von deiner Schönheit, deiner Eleganz und deiner Grazie spricht. Dabei ist es doch offensichtlich, dass du viel mehr verkörperst. Ich habe es dir ja schon oft geschrieben. Du bist nicht nur eine mit makelloser Schönheit ausgestattete Frau, nein, du bist der Inbegriff des Weibes. Ein Weib, wie es nur die Natur schaffen konnte. Ein Weib, das in solch einer perfekten Form so selten ist wie ein faustgroßer Diamant auf dem Grund des Rheins. Du bist ein wahrhaftiges Weib, die Tochter der Sünde und der Lüsternheit. Ich betrachte deine Fotos und sehe deinen makellosen weiblichen Körper. Wenn der Mensch die Krönung der Schöpfung ist, bist du die Krönung alles Menschseins. Und ich sehe die tiefen Abgründe deiner Seele, die animalischen Triebe, die tief in dir lodern. Ich sehe die Gazelle, die gefangen werden will. Aber keiner fängt sie, zu elegant schlägt sie ihre Haken. Ich sehe die wilde Löwin, die gezähmt werden will. Doch keiner zähmt sie, zu majestätisch steht sie im Rampenlicht. Ich sehe die Schlange, die ihr Gift verspritzen will. Doch keiner kommt in ihre Nähe, für den es sich lohnen würde. Ich sehe die Stute, die zugeritten werden will. Doch keiner legt die Zügel stramm genug an. Ich sehe die läufige Hündin, die von ihrem Herren erzogen werden will. Doch alle sehen nur das Schoßhündchen und wollen es streicheln. So bleibst du ein einsames Weib, umgeben von Speichelleckern und Tunten. Anstatt der Männer, die du begehrst, findest du nur kriechendes Gewürm um dich herum. Du bist Gefangene in einer Welt, in die du nicht gehörst. Deine Schönheit wird von Blinden bewundert. Sie verneigen sich vor dir und ahnen nicht, dass du es bist, die sich verneigen sollte. Mit Geld und Ruhm wollen sie dich erobern und sie ahnen nicht, dass sie sich immer weiter von dir entfernen.

       Doch eines Tages werden alle deine Wünsche in Erfüllung gehen. Deine geheimen Sehnsüchte werden sich in wahres Erleben verwandeln. Dann erst wirst du spüren, was es heißt, ein wahres Weib zu sein. Du wirst dich entwickeln, von der Tochter der Lüsternheit zur Mutter der triebhaften Gier. Du wirst deinen Verstand verlieren und eine unauslöschliche Begierde gewinnen. Du bist die schönste Frau der Welt und doch nur eine Raupe. Eine gefangene Königin, gefesselt mit den schweren Ketten unbefriedigter Lust. Aber eines Tages wirst du dich in einen Schmetterling verwandeln, dann wirst du als Sklavin in den Ketten der zügellosen Unterwerfung liegen und endlich frei sein.

       Ich freue mich auf deine Verwandlung. Graf F.

      Siebels reichte den Brief an Till weiter und schaute zu Tetzloff.

      »Haben Sie eine Vorstellung, warum Ihre Frau ausgerechnet diese Briefe aufbewahrt hat?«

      Tetzloff stierte auf seine Schuhspitzen, er suchte nach den richtigen Worten. Till hatte den Brief gelesen und legte das rote Papier zurück in den Karton.

      »Simone ist eine weltgewandte und offene Frau. Sie ist sehr experimentierfreudig, auch im Intimleben. Sie wissen ja, dass sie einige Affären mit mehr oder weniger zwielichtigen Gestalten hatte, bevor sie mich kennen lernte. Sie war immer auf der Suche nach extravaganten Männern. So genannte Weicheier oder Frauenversteher waren nicht ihr Fall. Der Verfasser dieser Briefe ist meiner Meinung nach ganz klar ein Verfechter von männlicher Dominanz und weiblicher Demut. Ich vermute ganz einfach, dass Simone auf diesem Gebiet keine Erfahrungen hatte, aber mehr darüber wissen wollte. Wie gesagt, sie hatte eine Schwäche für so genannte starke Männer.«

      »Und jetzt vermuten Sie, dass dieser Graf F. hinter der Entführung Ihrer Frau stecken könnte? Haben Sie die Briefe alle gelesen? Hat er in einem der Briefe ein Treffen mit Ihrer Frau vorgeschlagen?«

      »Nein, ich habe nur bruchstückhaft darin gelesen. Ein Treffen hat er in keinem der Briefe ausdrücklich erwähnt, soweit ich das bisher überflogen habe. Aber er hat oft Andeutungen gemacht, dass er Simone eines Tages treffen wird. Natürlich halte ich es für möglich, dass er hinter dieser Geschichte steckt. Vielleicht war er in den letzten Jahren mit den öffentlichen Auftritten und Fotos von Simone zufrieden gewesen. Und jetzt, wo Simone in den Medien keine Rolle mehr spielt, fehlt ihm der Nachschub an frischen Informationen und Bildern, um seine Fantasie am Leben zu erhalten. Da hat er sich das Objekt seiner Begierde in natura gegriffen. Halten Sie das für ausgeschlossen?«

      »Nein, das ist mit Sicherheit eine Spur, die wir verfolgen müssen. Nehmen wir einmal an, es wäre so. Was denken Sie, wie Ihre Frau darauf reagiert, wenn dieser Brieffreund