»Aber vergessen Sie nicht, dass der Kerl hier war, er hat den Brief persönlich eingeworfen. Mir ist nicht wohl dabei, das Haus unbewacht lassen.«
»Dann müssen Sie auch meine Büros bewachen, wissen Sie, wie viele Polizisten notwendig wären? Vergessen Sie das wieder. Sie und Ihr Kollege sowie der Herr Hofmeier von der Spurensicherung, sonst niemand, ist das klar?«
»Keine Sorge, Herr Tetzloff, Sie können sich ganz auf mich verlassen. Erst wenn es die Ermittlungsergebnisse erlauben, ziehen wir nach Absprache mit Ihnen noch weitere Beamte hinzu.«
Jensen beruhigte Tetzloff wieder, Siebels ärgerte sich maßlos über diese Arschkriecherei des Staatsanwaltes, sagte aber nichts mehr. Damit war der Aufenthalt in der Villa Tetzloff beendet, jedenfalls für den Sonntag. Siebels wollte nun endlich zu seiner Sabine. Der Gedanke an sie erweckte in ihm zum ersten Mal Mitgefühl mit Tetzloff, der sich die ganze Zeit über sehr gefasst gezeigt hatte.
6
Erinnerungen, September 1975
Eines Abends, ich hatte bereits mehr als drei Monate mit Claude und Monique auf dem Bauernhof verbracht, kam Claude mit einer Flasche Schnaps und zwei Gläsern in mein Zimmer. Er schenkte ein, einmal, zweimal, dreimal, das Zeug brannte in meiner Kehle, aber es tat mir gut. Claude betrachtete mich mit sorgenvoller Miene, er hätte sich viele Gedanken gemacht, teilte er mir schließlich mit. Ich könne nicht ewig auf seinem Hof bleiben, sagte er und schenkte den nächsten Schnaps ein. Mir war klar, dass er recht hatte, aber ich wusste nicht, wohin ich hätte gehen sollen. Das sagte ich ihm auch und er nickte wissend. Es würde da einen Weg geben, ich könnte ganz von vorn anfangen. Niemand würde fragen, was geschehen sei oder wo ich herkommen würde, vertraute er mir an. Er schenkte die Gläser wieder voll und ich hatte keine Ahnung, wovon er sprach, aber ich vertraute ihm. Schon am nächsten Morgen würde er mich fortbringen, ich sollte mir einen neuen Namen suchen, wenn ich mit meinem alten Leben endgültig abschließen wolle. Ich lag daraufhin die ganze Nacht wach, der Schnaps hatte seine Wirkung nicht verfehlt, mir war schlecht. Fieberhaft dachte ich über einen neuen Namen nach, war so sehr damit beschäftigt, dass ich von meinen nächtlichen Albträumen in dieser Nacht verschont blieb.
Am nächsten Morgen weckte Claude mich in aller Herrgottsfrühe, noch bevor der Hahn das erste Mal krähte. Monique hatte bereits das Frühstück zubereitet, es gab Omelett. Wir saßen schweigend am Tisch und aßen. Der Abschiedsschmerz lag in der Luft. Nach dem Frühstück verabschiedete ich mich von Monique, wir umarmten uns liebevoll. Sie legte mir ein Medaillon um den Hals, es sollte mir Glück bringen und die bösen Geister vertreiben, die mich jede Nacht aufs Neue heimsuchten.
Die Zeit für den Hahn war bereits gekommen, er krähte, der Hof erwachte zum Leben. Der Abschied schmerzte. Ich saß neben Claude in seinem alten Pick-up, wir sprachen kein Wort miteinander. Die Sonne stieg immer höher, das flache belgische Land zog an meinem Seitenfenster vorbei. Zwei Stunden später erreichten wir Antwerpen. Zielsicher fuhr Claude durch die Stadt, immer tiefer in die Innenstadt hinein. Schließlich stellte er den Pick-up in einer kleinen Gasse vor einer Kneipe ab. Ich folgte ihm in die dunkle Spelunke, ein unrasierter Wirt spülte gerade Gläser. Am Tresen saß ein Mann mit vernarbtem Gesicht, er war in eine Zeitung vertieft, ein Bier und ein leeres Schnapsglas standen vor ihm. Der Wirt begrüßte Claude freudig und musterte mich mit skeptischem Blick. In einer Ecke lungerten noch zwei andere junge Männer, vielleicht in meinem Alter, Anfang zwanzig. Sie machten einen müden und erschöpften Eindruck. Der eine war unschwer als Engländer auszumachen, der andere war Pole, wie ich später erfuhr. Der Wirt schenkte uns Bier ein, auf seinem nackten Oberarm prangte ein tätowierter Skorpion. Das gleiche Motiv war auch auf dem Oberarm von Claude abgebildet. Die beiden unterhielten sich auf Flämisch miteinander, einige Brocken davon konnte ich verstehen. Claude und Monique unterhielten sich oft in dieser Sprache. Ein Deutscher, das wäre selten, sagte der Wirt, und der andere Mann am Tresen schaute mich neugierig an. Claude antwortete, dass ich sehr gut französisch sprechen würde, und erkundigte sich beim Wirt, wann es losgehen würde. Bald, man müsse noch Station in Brüssel machen. Mehr konnte ich nicht verstehen. Wir tranken unser Bier aus und verharrten noch eine Weile schweigend am Tresen, bevor Claude mir alles Gute wünschte und mich schließlich allein in dieser Spelunke zurückließ. Nur ein fester Händedruck, dann war er weg. Ich gesellte mich zu dem Engländer und dem Polen und stellte mich vor. Ich sprach auf Englisch, der Pole verstand kein Wort, er sprach aber Deutsch.
Nach einer weiteren halben Stunde betrat ein neuer Gast die Kneipe. Der Wirt gab uns zu verstehen, dass unsere Reise nun beginnen würde. Draußen stand ein alter VW-Bus für uns bereit. Ich setzte mich zwischen den Engländer und den Polen und fragte nicht, wo die Reise hingehen sollte. Von Antwerpen nach Brüssel war es nur eine kurze Fahrt. In Brüssel hielten wir wieder vor einer Kneipe und luden noch zwei Belgier ein. Anschließend fuhren wir gleich weiter. An der Grenze zu Frankreich diskutierte der Fahrer mit dem Grenzer, ich konnte nicht verstehen, worum es ging. Der Grenzer winkte uns durch, die Fahrt ging weiter ins Innere von Frankreich. Nach einer weiteren Stunde erreichten wir Reims. Der VW-Bus stoppte in der Avenue de la Paix. Wir stiegen aus dem Bus und folgten unserem Fahrer durch einen Innenhof, vorbei an einem Uniformierten. An der Hauswand entdeckte ich ein Schild: Légion Etrangère, Accueil – Renseignements. Fremdenlegion, Empfang – Auskunft.
Sonntag, 30. November 2003, 12:40 Uhr
Während der Fahrt von Königstein zurück nach Frankfurt konnten sich Siebels und Till endlich wieder unter vier Augen unterhalten.
»Glaubst du an diese Rumänen?«, wollte Till wissen.
»Ein ganz normaler Entführungsfall wäre mir lieber. Wenn da wirklich ehemalige Offiziere von Ceaucescu dahinterstecken, dann sind die mit allen Wassern gewaschen. Vor zwei Polizisten wie uns haben die mit Sicherheit keine große Angst. Und in der Haut von Simone Tetzloff wollte ich dann auch nicht stecken. Aber noch glaube ich nicht an die Rumänen. Trotzdem werde ich gleich morgen Früh mal bei den Kollegen vom K31 vorbeischauen. Vielleicht liegen denen ein paar Informationen über diese Rumänen vor.«
»Sind das die Jungs von der Wirtschaftskriminalität?«
»Genau, es gibt zwei Abteilungen. Die Kollegen vom K313 befassen sich mit Kapitalanlagebetrug und Wertpapierhandel und die Kollegen vom K314 mit Bankrott und Insolvenzbetrug.«
Die beiden waren mittlerweile wieder in Frankfurt eingetroffen, Siebels fuhr mit hundertdreißig über die Stadtautobahn Richtung Miquelallee. Erlaubt waren hundert und unter der Brücke, kurz vor der Abfahrt nach Bockenheim, fluchte er laut, als es blitzte.
»Wie oft haben sie dich hier jetzt eigentlich schon erwischt?«
»Das war das dritte Mal. Irgendwann werde ich es lernen. Was macht eigentlich Johanna? Du hast lange nichts mehr erzählt. Seid ihr noch zusammen?«
Johanna war in einen Fall verstrickt gewesen, den Siebels und Till im letzten Sommer gelöst hatten. Es war der Fall, bei dem Till einen unschuldigen und psychisch labilen Mann mit seinen unorthodoxen Verhörmethoden in den Selbstmord getrieben hatte. Zwei junge Frauen waren ermordet worden, Johanna war die Dritte auf der Liste gewesen. Aber dann kam alles anders. Der Täter hatte sich in Johanna verliebt, wurde aber schließlich von Siebels, Till und Sabine Karlson gefasst. Sabine Karlson war eigentlich bei der Milieukriminalität angesiedelt gewesen, wurde aber für diesen Fall in das Team von Siebels und Till integriert. Siebels und die Karlson kamen sich auch privat näher, jetzt wartete sie auf ihn, lag auf seinem Sofa und schaute wahrscheinlich Fernsehen. Als der Fall abgeschlossen war und Johanna in den darauffolgenden Tagen ihre Aussage zu Protokoll gebracht hatte, war es Till, der die Befragungen übernommen hatte. Als der Fall endgültig abgeschlossen war, gingen die beiden des Öfteren mal aus, nach einiger Zeit waren sie ein Paar, sie redeten auch immer öfter über eine gemeinsame Wohnung.
»Ja,