Was ein Quatsch! Aber die Empfindungen in mir sind unbeschreiblich. Ich fühle Wasser, ich fühle Kraft, ich fühle etwas, das an Liebe erinnert.
Wir kommen zur Ruhe, die Partnerübung kann beginnen.
Die Shivas, also die Männer, bilden einen großen Kreis, in dessen Mitte sich die Shaktis, die Frauen, stellen. Die weibliche Energie im Zentrum, das Männliche darum. Wir stehen uns gegenüber und haben unsere Partner gefunden. Vor mir steht eine bildhübsche Italienerin mit dunkelroten Lippen. Ihr Lächeln ist genauso unsicher wie meins. Das verbindet, schafft Nähe. Wir werden das Kind schon schaukeln.
Hariprem leitet an. Wir stehen stabil, mit gutem Kontakt zum Boden etwa einen Meter auseinander, und blicken uns in die Augen. Ihre Augen sind dunkel wie Ebenholz. Ich versinke darin, lange bevor es losgeht. Durch das Mikrofon wird das Vorgehen erklärt: Wir atmen entgegengesetzt. Während ich sexuelle Energie aus dem ersten Chakra ausatme, nimmt Shakti, also die Italienerin, diese mit der Einatmung in sich auf. Sie leitet meine Energie aus dem Beckenboden nach oben und verwandelt sie in Herzenergie. Mit der Ausatmung breitet sie die Arme in meine Richtung aus, und ich nehme, während ich einatme, ihre Liebe in mein Herz auf. Von dort wandert diese Energie hinunter. Ich atme aus und schiebe sexuelle Energie in ihr Beckenboden-Chakra. Dabei drücke ich meine geöffneten Handflächen in Ihre Richtung und unterstütze den Fluss, indem ich mein Becken nach vorne schiebe. Sie empfängt in ihren Lenden mit der Einatmung, nimmt die Energie in ihrem Sex-Chakra auf und transformiert sie auf dem Weg nach oben in Herzenergie, um diese mit dem Ausatmen wieder zu mir zu lenken. Bei dem so entstehenden Kreislauf blicken wir uns tief in die Augen.
Okay. Nix mit »Hallo, ich bin Andi aus Köln, guten Tag, was machst du so?«, dafür das Becken wie beim Sex vor und zurückschieben und Sexenergie in Herzenergie umwandeln. Logisch. Penisenergie in Vagina, dann zur Mitte, zur Titte, zum Sack, zack, zack. Das spreche ich so aber nicht aus. Konzentration! Hier und jetzt: Andi, die Traumfrau und heilige Tantra-Magie.
Ich stelle mich aufrecht hin, bin ›bereit‹, also habe keinen Plan, aber es kann losgehen. Sie lächelt verlegen. Dann wollen wir mal.
Ich atme ein und schiebe mit der Ausatmung mein Becken vor. Dabei denke ich an sexuelle Energie, ohne zu wissen, was genau das ist (es wird ja keine unheilige Geilheit sein). Sie nimmt diese mit einer tiefen Einatmung in ihre Hüfte auf, und plötzlich sind wir im Fluss. Ich nehme ihre Liebe auf, schicke ihr Sex, und während wir uns in die Augen schauen, ist dieser Kreislauf auf einmal ganz natürlich und überhaupt nicht mehr bekloppt. Es fließt.
Jede Runde ist voller Hingabe, mit jeder Runde intensiviert sich die Verbundenheit. Die Energie ist nicht mehr subtil oder unkonkret, sondern kraftvoll und lebendig. Gefühle tauchen auf. Erotik, Traurigkeit, Freude, Schüchternheit, Verlangen und immer wieder Liebe. Wir nehmen alles in unseren Kreislauf auf und lassen uns davontragen.
Nach dreißig Minuten ist die Übung zu Ende. Ich setze mich in den Schneidersitz, und meine Partnerin hockt sich auf meinen Schoß und schlingt ihre Beine um meinen Rücken. Eine innige Umarmung, sie legt ihren Kopf an meinen Hals – Gott, fühlt sich diese Frau gut an. Und leicht bekleidet. Unanständige Gedanken sind unvermeidlich. Vor allem, da ich gerade dreißig Minuten in die Luft gebumst habe. Ich verurteile mich dafür, aber nur ein bisschen, denn bei Tantra ist ja alles erlaubt, und damit kann ich die schweinische Ablenkung ziehen lassen. Lust darf sein, Lust kann weiterziehen. Es wird zärtlich und nah. Wir könnten ewig nur so sitzen bleiben.
Irgendwann verschwindet der Zauber. Ich kehre zurück, werde unaufmerksam, beginne zu denken: Was für eine Frau! Sie fühlt sich so sanft an. Und was für eine Übung! Eine wunderbare Sache für Paare. Um dem Alltag zu entfliehen, Präsenz zu erleben, Verbundenheit zu spüren. Am besten zweimal in der Woche. Außer wenn alles hektisch und die Zeit knapp ist, dann viermal in der Woche. Diese Übung in dieser Halle mit diesem Meister ist besonders, weil das Subtile plötzlich überwältigend ist. Oder liegt es an ihr? An dieser wunderschönen schüchternen Italienerin? Oder an mir? An diesem Tag?
Natürlich ist es schwierig, diesen Zauber im heimischen Wohnzimmer entstehen zu lassen. Dazu braucht es Indien. Oder Hariprem. Oder: wenig Erwartung und ein kleines bisschen Übung.
Ich versuche wieder in das Fühlen zu gelangen, aber der Klang der Zimbel beendet die Übung. Die Meditation ist zu Ende. Ich verneige mich vor der Italienerin. Sie sieht glücklich aus.
Es bleiben ein paar Minuten, um Fragen zu stellen. Ich schaue mich um. Die Gesichter der anderen sind gelöst und j-e-d-e-r E-i-n-z-e-l-n-e ist unfassbar schön!!! Ich weiß nicht, was mit meinen Augen passiert ist, aber die Hariprem-Brille ist phänomenal.
Eine junge Frau meldet sich und erzählt, dass ihr Lebenspartner, ein Yogalehrer, nichts von Tantra wissen will. Hariprem antwortet, dass es nur Liebe gibt. Und wenn dich jemand verändern möchte, dann ist das auch Liebe. Das ist seine Art der Liebe. Damit muss man umgehen. Mit offenem Herzen!
Eine groß gewachsene Blondine in einem gestreiften Shirt meldet sich energisch. Sie mag es nicht, wenn die Männer ihr zu nahe kommen. Sie wollen nur Sex! Sex! Sex!
Empörung schwirrt durch die Reihen. Welcher sexbesessene Schuft hat unsere heilige Übung falsch verstanden? Oder ausgenutzt!
Hariprem flüstert in das Mikrofon: »Es gibt kein Nein. Nein ist Ego. Wenn die Männer wie dumme Jungs nur ficken wollen, hilft die Liebe.« Er schaut die Blondine an. »Aggression kann man nicht mit Krieg heilen. Oder Plumpheit mit Entrüstung. Dem Blinden muss man einen Blindenstock anbieten. Ihm den Weg zeigen.«
Sie lächelt.
Hier in dieser Halle soll die Liebe alles richten. Aber geht das auch draußen? Braucht es nicht manchmal ein starkes Nein, um nicht in die Enge getrieben zu werden?
Es wäre so schön, und Hariprem verkörpert den Weg der Liebe. »Wer soll den Shivas denn die Liebe zeigen, wenn nicht die unendliche Weisheit der Shaktis? Nein, dieser Mann mit seiner Lust ist ein verirrtes Kind. Sie soll ihn die Liebe lehren. Nicht Hass, nicht Abneigung. Damit er wachsen kann.«
Alle Spannung verlässt das Gesicht der Frau im gestreiften Shirt. Alle Abwehrhaltung ist verschwunden. Sie ist berührt, als wenn sie ihren Platz in dieser Welt erkannt hätte.
Stille breitet sich in der Halle aus, denn unsere Empörung, unsere Ablehnung war Ego. Natürlich soll sie nicht mit dem Aufdringlichen ins Bett springen. Aber anstatt aggressiv zu reagieren, können wir mit unserem Herzen verstehen. Der Frieden in seiner Botschaft ist kein Mitgefühl, seine Botschaft ist nicht tolerant, nicht selbstlos, diese Botschaft ist bedingungslose Liebe. Auch das Schwierige, das Ungewohnte, das Hässliche kann geliebt werden. Wir müssen nur die Herzen öffnen.
Am Nachmittag geht Ole zu Energetic Breath, ist aber enttäuscht, weil jeder bei sich bleibt. Zwei Stunden einsam, mit geschlossenen Augen atmen. Präsenz fühlen, den Raum, da sein und alles, was kommt, vorbeiziehen lassen. Die Leere annehmen, in der Leere versinken.
In meiner Session, in der anderen Halle, geht es um unsere Ahnen, um Heilige, um Tiere, die Anbetung der Sadhus. Sie sind unsere Vergangenheit, ein Teil von uns, von dem wir uns nicht abspalten dürfen. Ein leidenschaftlicher Monolog. Der Inder spricht und spricht und spricht. Er will uns aufwecken, will Ehrfurcht schulen, will uns unterweisen. Ich aber mag lieber fühlen. Zum Schluss dann endlich Aktivität. Wir tanzen, stapfen auf dem Boden, brüllen Tiergeräusche.
Ich treffe Ole vor dem Abendessen. Wir müssen entscheiden, wie es weitergeht. Das Thema des dritten Tages ist Erden und Zentrieren. Es gibt Yogastunden, Bauchtanz und andere Angebote, die uns nicht vom Hocker hauen. Wir lieben die Begegnung und belassen es bei den zwei Tagen, weil der Spaß auch ziemlich teuer ist. Derweil gibt es in Arambol anderes zu erleben. Außerdem bleibt Hariprem und wird nach dem Festival ein paar Wochen lang jeden Tag eine Session abhalten. Für fünf Euro – Liebe und Heiligkeit im Sonderangebot.
Mit der untergehenden