Ich bin froh, dass ich wieder fit bin. Ich bin froh, dass ich jetzt in Indien angekommen bin.
»Da liefen eben schon so viele Leute rum. Und die Mädels! Wahnsinn!!!«
»Ach, es geht hier auch um niedere Interessen?«, frage ich.
»Gewiss, das Auge meditiert mit.« Ole trinkt einen großen Schluck Bier.
»Genau, dein drittes Auge hat die Frauen stets im Blick.«
Ich freue mich, fühle nervöse Neugierde, will aber einen Einblick in mein Inneres erhaschen und nicht den Frauen hinterherjagen. Für Ole lässt sich das wunderbar vereinbaren. Er ist genauso interessiert, gespannt und offen, aber auch für zarte Weiblichkeit bereit.
»Sollte mich eine der Schönheiten in ihr Gemach zerren, werde ich, wenn das Universum es so will, keine Gegenwehr leisten.«
»Ich bin neugierig auf andere Sachen.«
»Das ist absolut legitim«, sagt Ole.
»Aufs Love Center«, grinse ich.
»Temple! Diese Respektlosigkeit. Das ist der stille Revoluzzer in deiner Seele.« Ole greift nach seiner Flasche. »Auf Indien, mein Lieber.«
»Ich finde, es sollte lustig bleiben. Ohne erhobenen Zeigefinger, und zu ernst darf es niemals werden. Dieses Leben.«
»Gute Einstellung. Ich freu mich auf die Heiligen … und die Mädels.«
Unser Essen kommt, ich habe Hunger. Trotzdem noch mal Sicherheit: Nudeln mit Tomatensauce. Ole isst Hühnchen.
Und einen Salat.
DAS TANTRA-FESTIVAL
Ich wache auf und bin sofort gespannt. Ole bleibt liegen. Er hat die ganze Nacht gekotzt. Mindestens zehnmal. Da unser Badezimmer keine Türe hat, noch nicht mal einen Vorhang, war ich live dabei.
»Oooh Gott«, stöhnt Ole. Seine Hautfarbe ist verschwunden, tiefschwarze Ringe zeichnen seine Augen.
»Kann ich irgendwas für dich tun? Wasser, Elektrolyte, willst du eine Banane oder Salzstangen?«
»Gott, geht’s mir scheiße«, flüstert er.
»Vielleicht Cola?«
»Ne, nur liegen.« Seine Augen fallen zu.
»Viel Spaß«, haucht er mit einer sterbenden Handbewegung in meine Richtung.
Oh Mann. Aber vielleicht ist es besser, komplett kaputt zu sein, als jetzt mit sich zu ringen.
15 Minuten später bin ich unterwegs.
Auf der einen Seite ist es schade, dass Ole nicht dabei ist, auf der anderen ist es einfacher, bei den verrückten Übungen mitzumachen, wenn ich niemanden kenne.
Meine Nervosität ist wie die Prüfungsangst früher in der Schule. Aufregung in jeder Zelle, leichte Übelkeit, aber es gibt auch kein Zurück. Ich eile an den Ständen vorbei, sehe dunkle Augen und farbenfrohe Gewänder. Jeder Schritt auf diesem Subkontinent ist ein Erlebnis.
Heilige Kühe, Nagelbretter statt Matratzen, Götter mit Elefantenkopf. Indien macht es einem leicht, ein Kind zu sein. Ich will alles sehen, spüren, aufsaugen, berühren und berührt werden.
Und Tantra?
Wie bei den meisten Ideen, Philosophien und Lebenskünsten aus dem Großraum Indien, liegt auch der Ursprung von Tantra im Yoga. Ein Weg zur Erleuchtung.
Im Tantra ist alles Energie. Egal ob Wut auf den Chef, Traurigkeit, weil die Lieblingsoma verstorben ist, oder Sex. Alles ist Energie, wird eingeladen, gefühlt, gefeiert, gelebt. Tantra hat nichts mit Sexorgien zu tun. Die sexuelle Energie ist ein Phänomen unter vielen, ein Teilbereich, und wird auf andere Weisen geweckt, als durch Ficken oder das Massieren von Geschlechtsorganen. Die Atem- und Körperübungen, allein, zu zweit oder in einer Gruppe, sind unglaublich effektiv. Wenn die Yogaübungen den Körper geschmeidig machen und eine meditative Stille schaffen, dann liegt die Magie von Tantra darin, unbändige Energien zu entfesseln und unbekanntes Terrain zu betreten. Was dort im Inneren schlummert, ist gewaltig. Tantra ist ein mystisches Spiel. Ein Wagnis, eine offene Begegnung mit dem eigenen Wesen. Tantra ist alles und nichts, und genau das macht es so spannend. Was Tantra nicht ist, ist gemütlich. Und deshalb bin ich hier.
Um neun Uhr werden etwa 200 Teilnehmer zur großen Halle geführt, um einzutreten: Menschen, die entschieden haben, ihr Leben der Spiritualität zu widmen, andere wie ich, die Kurse oder Seminare belegen, Erfahrungen suchen, aber nicht so tief in die Szene eintauchen, und Neulinge, die irgendetwas hierhergeführt hat. Eine Sehnsucht, Fragen, Schmerz oder der Wunsch, etwas zu verändern.
Als wir eintreten, verliert all das seine Bedeutung. Egal woher wir kommen oder was wir sind, jeder bringt den Mut mit, auf (s)eine Reise zu gehen.
Mein Herz klopft, ich kenne niemanden. Um uns sphärische Musik. Der dumpfe Beat klingt wie der Puls dieser Gemeinschaft. Es riecht nach Energie, nach Aufbruch, nach Abenteuer. Männer, Frauen, Schüchterne und Starke. Königinnen, Mitstreiter, Tafelritter. Schwarze Augen und lange blonde Haare. Zarte und Harte. Tollkühne und Ängstliche. Hitze breitet sich aus.
Das Mädchen im gelben Bikini hat leuchtend grüne Augen. Sie wippt im Takt. Sie ist wunderschön. Ein indisches Mantra erklingt, ihr Kopf schwingt von rechts nach links. Weitere Krieger treten ein. Einige Lachen. Ein Muskelberg von einem Mann mit schwarzen Locken steht am Rand. In seinen Augen schwimmen Tränen.
Eine Gänsehaut rennt über meinen Rücken. Die Halle füllt sich. Mit Menschen, mit Gefühl, mit Lebensfreude, mit Unsicherheit, mit Furcht, mit Mut, mit Zuversicht. Von allen Seiten, von oben und unten und rechts und links schwirrt Emotion durch mich hindurch. Alle sind fremd, verschieden, auch gleich. Wie viel kann ich vor den anderen enthüllen? Was darf an die Oberfläche? Was will hier gesehen werden? Dürfen die Masken fallen, können wir uns offenbaren, uns zeigen, das, was wir zu Hause kontrollieren oder zurückhalten? Alles in mir ist durcheinander, schon jetzt, Neugierde, Magie, auch Traurigkeit und Ungewissheit. Das Gefühl wie vor einer großen Reise. Es ist mehr Aufregung als Vorfreude und vor allem Schiss.
Vorne reihen sich die Organisatoren auf, davor versammelt sich die Meute, die bereit ist, sich auszuliefern und gemeinsam ins Unbekannte zu ziehen. Jeder Einzelne ist wunderschön. Es berührt mich, diese Menschen zu betrachten. Dann treten die Lehrer ein. Ein alter Mann mit langem grauem Bart schließt für einen Moment die Augen, ein Kribbeln fliegt durch meine Magengegend. Zu ihm will ich gehen. Könnte Gandalf sein, auch wenn er mich mehr an Saruman erinnert.
Die Eröffnungszeremonie beginnt, der Ablauf wird erklärt, alles darf sein. Es geht um Liebe, die allem innewohnende Energie, die Essenz von Tantra. Unsere Gurus stehen nebeneinander und werden vorgestellt. Jeder verliert einen Satz zu dem, was uns erwartet. Ein drahtiger, hochgewachsener schwarzer Yogi ist zu Scherzen aufgelegt. Wir werden uns mit besonderen Frequenzen beschäftigen. Er zwinkert in die Runde. Hariprem, der Alte mit dem grauen Bart, ist genauso neugierig wie wir, da auch er noch nicht weiß, wie wir morgen Vormittag die Herzen öffnen werden. Viele lächeln, er ist hier nicht unbekannt.
Dann sollen wir durch den Raum gehen, die Mitstreiter der kommenden Tage sehen, fühlen, begrüßen. Augenkontakt, Verbindung aufnehmen und uns schließlich zu fünft zusammenfinden. Eine kleine Familie für die kommenden Tage des Tantra-Festivals. Bezugspersonen, eine Vereinigung, die ihr Inneres teilt, füreinander da ist. Und damit geht es los: Family Sharing. Fünf oder sechs Personen setzen sich in einen Kreis, um miteinander zu reden. Es wird geteilt, was jetzt gerade da ist. Jeder soll sich zeigen und gesehen werden. Es geht um das, was sich in uns abspielt. Alles darf sein. Die Sprache kann frei gewählt werden, denn die Geschichte ist zweitrangig. Es zählen das Wesen, die Gefühle, der Augenblick.