Der Vordenker beschränkte sich auf Ermahnungen. »Seid ihr lebensmüde?«, schrie er sie an. »Wenn die Flachaugen jetzt angreifen, sind wir erledigt!« Oder: »Reißt euch zusammen! Ihr seid Zweidenker!«
Negan-Parr hatte Recht, aber niemand kümmerte es, auch nicht die Flachaugen. Zwei, drei Geplänkel mit Helk-Modulen im Zeitraum von mehreren Tagen – weitere Feindberührung erfolgte nicht. Es war, als hätte der Feind aufgegeben. Oder vielleicht hatten sie ihn auch schon so gut wie ausgerottet.
An-Keyt wollte nicht darüber nachdenken. Nicht über tote Flachaugen. Nicht über das, was sie hier tat. Doch es nutzte nichts. Sie konnte zehnmal am Tag zu Jevek-Kart schleichen und Nachschub holen, ihre Gedanken waren nicht totzukriegen. Sie musste immerzu an den flachäugigen Fremden denken. Er hatte sie verschont. Wieso? Wozu? Und wo mochte er jetzt sein? Vielleicht war er bereits tot, vielleicht hatte er eine Begegnung mit einem anderen Loower gehabt, einem, der nicht so zögerlich und willensschwach war wie sie. Eigentlich sprach alles dafür. Das Netz der vorrückenden Trupps war eng. Kein Feind konnte durchschlüpfen. Die Logik gebot, dass der Fremde tot war. Ein verschmorter Haufen Fleisch. Es konnte nicht anders sein.
Doch irgendwie konnte sie nicht an seinen Tod glauben. Je mehr sie darüber nachdachte, desto mehr wuchs die Überzeugung in ihr, dass ihre Begegnung kein Zufall gewesen war. Der Fremde hatte sie bewusst herbeigeführt. Es musste so gewesen sein. Die PAN-THAU-RA war zu riesig, als dass eine Begegnung wie die ihre einem Zufall zu verdanken sein konnte. Und ein Wesen, das zu so etwas in der Lage war, würde es auch schaffen, den Spürhelks aus dem Weg zu gehen.
Aus dem Weg zu gehen. An-Keyt wünschte sich nichts mehr, als in dieser Disziplin Meisterschaft zu erlangen. Solange die Drogen des Söldners ihre Wirkung entfalteten, war sie sicher in ihrer eigenen Welt, so sehr sie auch dort die Zweifel martern mochten. Hinterher meist auch, wenn sie sich übergab, ihr Organismus auf Hochtouren arbeitete, um die Fremdstoffe in ihrem System abzubauen. Ihr war schlicht zu übel, um mehr als rudimentäre Sinneseindrücke von ihrer Umwelt mitzubekommen. Blieben die Zeiten dazwischen. Endlos lange kam es ihr vor, bis sich wieder eine Gelegenheit ergab, zu Jevek-Kart zu schleichen und sich eine neue Dosis zu holen. Er gab ihr immer nur eine, ganz gleich, wie würdelos sie ihn anbettelte. Sie tat es trotzdem, in der Hoffnung, dass sie ihn irgendwann erweichte. Außerdem hatte sie das Gefühl, dass der Söldner es genoss, wenn sie sich vor ihm erniedrigte. Sie erwartete seit langem, dass er von ihr Paarungen für die Drogen verlangte. Bislang war es noch nicht geschehen. Ihm schienen andere Kicks wichtiger. Anfangs war An-Keyt erleichtert gewesen. Sein narbenübersäter Körper, gezeichnet vom Töten, hatte sie angeekelt. Jetzt sehnte sie sich fast danach. Die Nächte erschienen ihr endlos.
Belor-Thon hatte ihren Entschluss, sich nicht mehr mit ihm zu paaren, nicht gut aufgenommen. Die ersten Nächte hatte er sich verstockt in eine Ecke zurückgezogen, jetzt war er dazu übergegangen, sich jede Nacht mit dem Logistiker Mirton-Kehn zu paaren. Sein – demonstratives, wie An-Keyt glaubte – Stöhnen raubte ihr den Schlaf, und immer, wenn sie hinsah, hatte er starr und anklagend ein Stielauge auf sie gerichtet. Ich weiß, dass mit dir etwas nicht stimmt, sagte es. Warte nur, ich kriege dich dran!
Es war ein elendes Warten. Belor-Thon konnte sie jederzeit an Negan-Parr verraten. Nicht das Peschtan geschluckt zu haben, vor der Züchtigung weggerannt zu sein ... es würde ein gefundenes Fressen für den Vordenker sein. Negan-Parr lauerte nur auf eine Gelegenheit, seine aufgestaute Wut zu entladen. An-Keyt würde eine vorzügliche Zielscheibe abgeben. In ihren schlimmsten Momenten wünschte sie sich herbei, dass Belor-Thon sie endlich verriet, sie es endlich hinter sich hatte.
Belor-Thon tat ihr den Gefallen nicht. Er ließ sie zappeln. An-Keyt ging ihm – so gut es ging, also so gut wie erfolglos – aus dem Weg. Belor-Thon und auch Lef-Krar. Der Navigator wusste möglicherweise noch mehr als der Junge. Doch entweder schien er nicht die Absicht zu haben, sie zu quälen, oder seine Folter übertraf an Subtilität und Effektivität noch weit die Belor-Thons.
Lef-Krar schenkte ihr keine weitere Beachtung, sprach mit ihr lediglich, wenn die Umstände es erforderten, nahm die übrige Zeit keine Notiz von ihr. Es war, als sei nichts geschehen. Es gab Momente, in denen sie sich nichts mehr als das wünschte. Dass sie den Fremden nie getroffen hätte, dann wäre sie immer noch eine einfache Soldatin im Krieg für das Leben, die ihren kleinen, unbedeutenden Teil zum großen Ganzen beitrug. Ihre Zweifel wären beherrschbar, eine Art mentales Hintergrundrauschen, an das man sich schließlich so gut gewöhnte, dass man es nicht mehr wahrnahm. Dann hätte sie sich nicht vor Belor-Thon und Lef-Krar verstecken müssen, dann wäre der Drang, sich in eine Ecke zu verkriechen, die Beine an den Leib zu ziehen und die Flughäute über sich wie einen Schirm zu entfalten, endlich verschwunden.
An-Keyt hatte Angst. Angst vor dem, was ihre Begegnung mit dem Flachauge bedeuten mochte. Vor dem, was sie in ihr ausgelöst hatte. Vor dem, was sie ihrerseits auslösen musste, um nicht den Verstand zu verlieren.
Manchmal – wenn die Drogen sie aus ihrem Griff entließen, oder gerade dann, wenn sie sich fest in ihrem Griff befand – dachte sie daran, den Knoten platzen zu lassen, ein Ende zu machen. Zum Vordenker zu marschieren, oder wenigstens zum Navigator, und ihm die Wahrheit zu sagen. Ein Blick auf die Gestalt Negan-Parrs genügte für gewöhnlich, sie von dieser Absicht abzubringen. Der Vordenker hatte sich eine leicht nach vorn gebeugte Haltung zu Eigen gemacht, als sei er ein Raubtier, das nur auf die Gelegenheit wartete, Beute zu schlagen. Und Lef-Krar ... er schien weniger bedrohlich als unnahbar. Lef-Krar wirkte düster, in dunkle Gedanken versunken. Mehr noch, seit Mirton-Kehn ihn hatte fallen lassen und dazu übergegangen war, sich mit Belor-Thon zu paaren. Der alte Mann und der Junge waren ein Anblick, der nicht nur An-Keyt zu schaffen machte.
Vielleicht, dachte die Loowerin, ist das ein Ansatz. Ich spreche ihn darauf an und ...
Eine Stimme drang aus dem Akustikfeld ihres Helms. »Vordenker, da ist etwas!« Sie gehörte Saleng-Merv. Der Loower versuchte nüchtern und professionell zu wirken, betonte aber damit nur den schrillen Unterton der Aufregung in seiner Stimme.
»Das ist keine Meldung, Soldat«, kam die Entgegnung des Vordenkers. Er hatte sich angewöhnt, alle in der Gruppe stets mit »Soldat« anzusprechen. »Sei präzise!«
»Das ... es ... die Spürhelks melden ein organisches Wesen.«
»Schon besser, Soldat. Wo ist das Problem?«
An-Keyt hörte nur mit halber Aufmerksamkeit hin. Saleng-Merv war weit weg. Er und Belor-Thon bildeten an diesem Tag die Vorhut des Trupps, waren weit voraus. Der Höckerwulst der Loowerin pulsierte schmerzhaft, ihre Sprachblase war von einer Trockenheit befallen, die einfach nicht weichen wollte, obwohl sie ihr Wasser schneller aufbrauchte, als ihr Anzug es wieder aufbereiten konnte. Der letzte Schuss aus der Drogenküche des Söldners brannte in ihren Adern. An-Keyt wollte am liebsten an Ort und Stelle niedersinken. Oder noch besser: einen neuen Schuss. Wo steckte Jevek-Kart? Die Loowerin verdrehte suchend die Stielaugen.
»Das Wesen kommt auf uns zu.«
»Na und? Überlass es den Helks, Soldat. Sie kümmern sich darum.«
»Das ... das geht nicht, Vordenker.«
»Sind die Helk-Module defekt, Soldat? Wieso hast du dann keine Meldung erstattet? Das ...«
»Die Helks sind in Ordnung.« An-Keyt horchte auf. Saleng-Merv hatte dem Vordenker das Wort abgeschnitten! »Dieses Wesen ... die Helk-Daten weisen es als Loower aus.«
Der Vordenker schwieg verblüfft. Dann sagte er: »Das ist unmöglich, Soldat! Vor uns ist ungesichertes Territorium. Dort gibt es keine Loower!«
An-Keyt vergaß für einen Augenblick ihre Leiden. Der Vordenker hatte Recht. Ihr Trupp marschierte seit einiger Zeit wieder an der Spitze. Vor ihnen konnte es nur Feinde geben.
»Ich weiß, Vordenker. Es ist unmöglich, aber die Helk-Daten sind eindeutig. Vielleicht