Der Taubenhasser und das Fenster zum Hof. Michael Möseneder. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Michael Möseneder
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Социология
Год издания: 0
isbn: 9783709939475
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Stunde lang befragt. Am Ende vertagt der Vorsitzende auf unbestimmte Zeit, da das Ermittlungsverfahren aus seiner Sicht unzureichend gewesen ist. Er will weitere Zeugen hören und auch ein Sachverständigengutachten einholen. Da dieses beantragt wurde, während die Öffentlichkeit ausgeschlossen war, darf er nicht verraten, worum es in der Expertise gehen soll.

      Die hehre Absicht des Schutzes des höchstpersönlichen Lebensbereiches von S. erweist sich am zweiten Prozesstag als vergebliche Liebesmüh. Denn sowohl Staatsanwaltschaft, die Anwältin von W. und die Verteidigung gehen auf das mysteriöse Gutachten ein. Dessen Inhalt: die von einem Sachverständigen erhobene Krümmung des Geschlechtsteils des Angeklagten.

      Die Bedeutung dieser Expertise wird mit dem Auftritt der ersten Zeugin am zweiten Verhandlungstag klar. Die war zur fraglichen Zeit ebenfalls Kellnerin in dem Lokal. Und hatte ein sexuelles Verhältnis mit dem Angeklagten. „W. hat mich am Tag nach dem Vorfall angerufen und erzählt, dass S. sie belästigt hat“, erinnert sich die Zeugin. W. habe auch die ungewöhnliche Form des Geschlechtsteils von S. beschrieben, daher habe sie ihr geglaubt.

      Am ersten Verhandlungstag hatte S. noch behauptet, dass an seiner Erektion nichts Ungewöhnliches sei. „Weil es für mich normal ist“, sagt er nun dazu. Zusätzlich vermutet er, dass sich W. bereits vor dem inkriminierten Vorfall mit der Zeugin über seinen Penis ausgetauscht habe. „Unter Frauen spricht man sicher darüber, wie ein Mann gebaut ist“, mutmaßt er.

      Doch auch der nächste Zeuge stützt W.s Version. Der Ex-Freund der jungen Frau erinnert sich, dass W. ihn am fraglichen Tag unbedingt sehen wollte. Als er sie von der U-Bahn abholte, habe sie zu weinen begonnen und erzählt, dass sie in der Arbeit belästigt worden sei. „Ich dachte zuerst, jemand ist gestorben, ganz ehrlich“, fasst er W.s Gemütslage zusammen. Versuche, sie zu einer Anzeige zu überreden, seien aber damals gescheitert.

      Eine weitere Mitarbeiterin behauptet, einmal selbst unliebsame Erfahrungen mit S. gemacht zu haben. „Wir waren im Abenddienst, ich ging im Keller auf das WC. Als ich herauskam, stand er da und versuchte mich zu küssen. Ich habe ‚Stopp!‘ gesagt, und er hat aufgehört.“

      Privatbeteiligtenvertreterin Elisabeth Bischofreiter will für W. 2.500 Euro für erlittene seelische Schmerzen. Und verweist wie die Staatsanwältin auf das Gutachten, das belege, dass ihre Mandantin den Angeklagten unbekleidet gesehen haben müsse.

      Der Senat verurteilt den unbescholtenen S. schließlich nicht rechtskräftig zu zehn Monaten bedingt. „Wir haben es uns nicht leicht gemacht“, begründet der Vorsitzende. „Auch wenn Frau W. dazu neigt, sehr impulsiv zu formulieren – es entstand nicht der Eindruck, dass sie gelogen hat.“ W. bekommt 500 Euro zugesprochen.

      Tobias S. ist „Isabella“ und 14 Jahre alt. Besser, er war es – und das nur im Internet. Genauer, in diversen Erotikforen, in denen er zahlungswilligen Männern versprach, dass sie sein weibliches Alter Ego vor einer Webcam nackt sehen könnten. „Eine absolut blöde Idee“, wie er nun in seinem Betrugsprozess zu Claudia Bandion-Ortner sagt, die dem Schöffensenat vorsitzt.

      Im Jahr 2010 war der Deutsche nach Wien gekommen, um zu studieren. Wirklich schlecht ging es ihm finanziell nicht, die Idee für einen illegalen Zusatzverdienst entwickelte sich dennoch. „Wie kommt man darauf?“, fragt ihn Bandion-Ortner. „Ich habe im Fernsehen eine Reportage gesehen, wie leicht Männer glauben, dass sie mit einer Minderjährigen chatten.“ Das wollte er ausprobieren, legte sich seine falsche Identität zu. Und hatte Erfolg: „Sobald ich geschrieben habe, dass ich Cam-Sex-Dienste anbiete, haben mich sofort 500 Leute geaddet“, erinnert sich der Geständige. Später erhöhte er sein „Alter“ auf 18.

      Insgesamt 1.350 Euro zum Beispiel überwies ihm ein „Herr Peter“. Der ist eines jener 18 in der Anklage genannten Opfer, die gezahlt haben, bei weiteren drei blieb es beim Versuch. In der Realität muss es viel mehr Interessenten gegeben haben, sagt auch der ermittelnde Polizist als Zeuge aus. „Die Opfersuche war schwierig.“ Es gebe zwar bändeweise Ausdrucke von Mailkonversationen und offensichtlich auch mehr Überweisungen. Die konnten teils aber nicht zugeordnet werden.

      Andere schon – doch die Betroffenen, darunter zwei Priester, wollten keine Anzeige erstatten. „Einer der Männer hat gesagt, er sei verheiratet und wolle keine Schwierigkeiten, er habe keinen Schaden erlitten“, meint der Beamte achselzuckend.

      Ob es das ganz große Geschäft war, kann man S. daher nicht nachweisen. 4.400 Euro soll er zwischen 2011 und 2013 so ergaunert haben. Er sagt, er habe den ihm bekannten Opfern 50 Prozent als Wiedergutmachung angeboten. Ein im Saal anwesendes Opfer widerspricht. Es habe ein Mail gegeben, danach nichts mehr. Obwohl er nicht muss, erzählt der Mann, wie es zum Kontakt mit der „18-Jährigen“ kam: schmutzige Scheidung, Burnout, Skype-Konversation mit der Internetbekanntschaft. „Da war das Gefühl, dass hier mehr dahintersteckt.“ Steckte doch nicht – zum vereinbarten Treffen kam niemand.

      Der Senat berät nur kurz und verurteilt S. rechtskräftig zu zwei Jahren bedingt. Mittlerweile studiert der Angeklagte übrigens Jus, daher hat die Vorsitzende noch einen Rat: „Ich hoffe, Sie haben etwas gelernt. Nicht nur für Ihr Studium, sondern auch für Ihr Leben. Machen Sie so einen Blödsinn nie wieder.“

      „Ein Mutterherz kann viel verzeihen“, trällerte Rudolf Schock einst. Er kannte offensichtlich Vesna J. nicht, die sich in Korneuburg vor einem Schöffensenat unter Vorsitz von Monika Zbiral verantworten muss. Die 59-jährige J. griff in einem jahrelangen Familienstreit nämlich zu kriminellen Mitteln: Sie zündete das Haus ihres Sohnes an, wie sie zugibt.

      „Bekennen Sie sich schuldig?“, will die Vorsitzende von der Unbescholtenen zunächst wissen. „Ja. Aber fragen Sie mich, wie es dazu gekommen ist!“, lässt die resolute Österreicherin übersetzen. „Das mach ich gleich, aber erst belehre ich Sie über Ihre Rechte“, versucht Zbiral zu bremsen.

      Das gelingt ihr im Verfahrensverlauf nur bedingt, immer wieder echauffiert sich J. lautstark über die angeblichen Ungerechtigkeiten, unter denen sie zu leiden habe. Vor fünf Jahren sei ihr Mann verstorben, das Haus und dazugehörende Grundstück im Bezirk Korneuburg überschrieb sie daraufhin auf ihren Sohn. Mit diesem und der Schwiegertochter habe es aber ständig Streit gegeben.

      Besonders wütend machte J. offenbar, dass der Sohn ein zweites, größeres Haus auf dem Grundstück baute, dieses aber vermietete. „Wir mussten weiter im kleinen Haus wohnen!“, empört sich die Angeklagte auch vor Gericht. Dazu habe ihr der Sprössling samt Gattin vorgeworfen, dass sie nicht arbeiten würde.

      „Was soll das jetzt für einen Zusammenhang mit der Brandstiftung haben?“, will die Vorsitzende wissen. „Ich war damals nervös. Und befand mich in einer tiefen Depression!“, behauptet J., der ein psychiatrischer Sachverständiger Zurechnungsfähigkeit beschieden hat. „Zur Krankheit Depression gehören traurige Gedanken und Antriebslosigkeit. Aber nicht Aggressivität“, belehrt Zbiral die Angeklagte.

      Irgendwann zog die Familie dann doch in das große Haus, zufrieden war J. damit aber auch nicht. „Ich durfte dort nicht kochen und rauchen“, beschwert sie sich. Das kleine Haus wurde mit einer Alarmanlage versehen, die aber offensichtlich Fehlalarme produzierte, was ebenso zu Streitereien mit dem Sohn führte. „Ich wollte mir einen Kaffee kochen. Mein Sohn hat gesagt: ‚Warum trinkst du ständig Kaffee? Es ist besser, du lutschst meinen Schwanz‘“, übersetzt der Dolmetscher.

      Der Sohn habe sie auch aufgefordert, sich umzubringen, behauptet die Angeklagte. „Die Frage, die ich an Sie habe, ist, warum Sie Feuer gelegt haben“, versucht die Vorsitzende wieder zum Kern des Problems zu kommen. „Hätte ich mich aufhängen sollen?“, empört J. sich mit einer Gegenfrage.

      Am 1. Oktober ging sie jedenfalls gegen vier Uhr in das kleine Haus, tränkte an drei Stellen Polster und Matratzen mit Speiseöl und deponierte brennende Küchenrollen. Anschließend packte sie Koffer und Tasche und stellte sich bei der Polizei, während die Feuerwehr noch mit den Löscharbeiten beschäftigt war.