Grenzgänger: Deutsche Interessen und Verantwortung in und für Europa. Joachim Bitterlich. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Joachim Bitterlich
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Историческая литература
Год издания: 0
isbn: 9783838274508
Скачать книгу
verfolgt gefühlt, und den Eindruck, der Spiegel wolle ihn wegschreiben“. Nach einer ersten Phase habe ich ihn darauf angesprochen und ihn offen gefragt, ob er etwas dagegen habe, wenn ich diesen Kontakt auch künftig – mit aller Vorsicht – nützen würde. Daraus wurde ein gewisser Disput über Nutzen und Schaden, er verbot mir den Kontakt aber auch nicht – und ich unterrichtete ihn über sensible Fragen, die die beiden Spiegelianer aufgebracht hatten. Beide hatten über die Jahre die vereinbarte Vertraulichkeit gewahrt und gehörten letztlich zu den positiven „Spiegel“-Erlebnissen meinerseits, kritische gab es in den Jahren allerdings auch! Dazu an anderer Stelle mehr!

      Einen ganz anderen Helmut Kohl konnten zum Beispiel französische Journalisten erleben. Freundlich, sensibel, entgegenkommend, klar – ich erinnere mich lebhaft an mein erstes Erlebnis. Über den Elysée war bei mir die Anfrage einer der bekannten Interview-Sendung „Heure de Vérité“ – Stunde der Wahrheit gelandet – eine Sendung geschaffen und moderiert von François-Henri de Virieu unter Teilnahme von drei bekannten Journalisten, Alain Duhamel, Albert du Roy und Jean-Marie Colombani. In der Vorbereitung hatte ich mir mehrere Sendungen angeschaut und eingehend den Stil der Sendung mit den Machern besprochen. Ich trug dem Bundeskanzler daraufhin vor, er möge kurze Antworten geben, nicht länger als 2 – 3 Minuten. Daraufhin lachte der Bundeskanzler los, ich müsse doch langsam die großen Stars kennen, sie würden eine Frage in einem 10-Minuten Statement verstecken und ihn dann bitten, sich kurz zu fassen. In der Sendung, die Anfang April 1990 im alten Palais Schaumburg aufgezeichnet wurde, habe ich einen extrem disziplinierten Bundeskanzler erlebt, der auf die ganz knappen, kurzen Fragen kurz antwortete und sich an sein Limit hielt. Dazu wollte er die Kamera-Mannschaft am liebsten in Bonn behalten. Endlich hatte ihn jemand in vorteilhafter Weise aufgenommen, nicht von unten, um ihn noch wuchtiger aussehen zu lassen, sondern schräg von oben!

      Die Sendung hatte leider ein Nachspiel, auf das ich hätte besser achten müssen. Nach der Sendung diskutierte der Bundeskanzler munter mit den Journalisten weiter, auch über kritische Fragen der Wiedervereinigung Richtung Nachbarn im Osten. Und einer der Herren berichtete „auf seine Weise“ darüber in Paris, wo einige ein Interesse hatten, es in Richtung Bonn zurückzuspielen, und zwar unter Nutzung der Bande, sprich über deutsche Journalisten und über Genscher. Die Kollegen im Elysée fragten mich indes offen nach dieser Diskussion und ich konnte Gott sei Dank die Äußerungen klarstellen.

      Einen genauso hoch sensiblen Helmut Kohl erlebten dann Millionen Franzosen als zugeschalteten Gast in der Fernseh-Debatte zwischen Mitterrand und Séguin wenige Tage vor dem Maastricht-Referendum 1992 oder Jahre später im Interview mit Anne Sinclair in ihrer Reihe „7 sur 7“.

      Aufgabenfeld und -stellung im Bundeskanzleramt erwiesen sich als Minenfeld im Verhältnis zu den Fachressorts. Die Abteilungen des Bundeskanzleramts sind nicht einfache „Spiegelabteilungen und -referate“ zu den Fachministerien, sondern zugleich auch Helfer des Bundeskanzlers und des Chefs des Bundeskanzleramts zu deren Unterstützung wie zur möglichst reibungslosen Durchführung der Regierungs- und Koalitionsarbeit.

      Für Helmut Kohl waren wir eine Mischung aus „Pendant“ und Bindeglied zu den federführenden Ministerien, wir waren zugleich sein operativer Arm, den er ggf. einsetzen konnte, und zugleich Planungsstab, der mittel- und längerfristig Politik entwickelte.

      Der Konflikt war und ist im deutschen institutionellen System strukturell angelegt, er ist durch den Spannungsbogen zwischen der „Richtlinienkompetenz“ des Bundeskanzlers auf der einen Seite und dem „Ressortprinzip“ auf der anderen Seite vorprogrammiert.

      Erwartete der Bundeskanzler die Umsetzung seiner politischen Linie und Überzeugung, so bedeutete dies nicht unbedingt, dass damit das Auswärtige Amt, die Verteidigung, das Ministerium für Entwicklungszusammenarbeit oder die eigene Fraktion im Bundestag oder im Europäischen Parlament immer einverstanden sein mussten.

      Die Presse stilisierte mitunter die damit verbundenen verdeckten, zuweilen auch offenen Meinungsverschiedenheiten und Konflikte hoch zum „Neben- oder heimlichen Außenminister“. Dies klang natürlich gut und nach Schlagzeilen bzw. nach Ärger, entsprach aber in keiner Weise der Realität, der über weite Strecken engen und vernünftigen Zusammenarbeit mit den mir „anvertrauten“ Häusern.

      Zugleich ist es schon richtig, dass die formale Struktur mit dem „Ministerialdirektor“ an der Spitze der Abteilung im Kanzleramt nicht einfach der Hierarchie der Fachressorts entsprach. Dennoch kann ich im Rückblick die echten Streitfälle an zwei Händen abzählen. Helmut Kohl, dem die Europapolitik wie auch einige Kernthemen der Außenpolitik besonders am Herzen lagen, bediente sich seiner Mitarbeiter, um Politik zu erläutern, Hintergründe diskret zu sondieren, Ideen zu testen, Vertrauensverhältnisse aufzubauen und zu vertiefen, Verhandlungen oder Treffen vor- oder nachzubereiten oder schlicht um seine Außenpolitik zu flankieren.

      Daraus ist über die Jahre mit Politikern und Kollegen in Deutschland wie in Europa und auf internationaler Ebene ein enges Vertrauensverhältnis, eine Art Netzwerk entstanden. Mit vielen Kolleginnen und Kollegen bin ich noch heute befreundet oder zumindest in Verbindung. Mitunter musste ich für manche auch als der „verlängerte Arm“ Helmut Kohls, sein „Strippenzieher“, wie der Economist einmal titelte, aber auch sein „Terrier“ oder „Wadenbeißer“ erscheinen – auch dies gehörte zur Aufgabe – als ob es dies in den Ministerien oder in den Fraktionen oder selbst im Europäischen Parlament nicht auch gegeben hätte!

      Umgekehrt erwartete das „Mutterhaus“ Auswärtiges Amt – außer dem Minister selbst, der dieses Spannungsfeld sehr wohl einzuschätzen wusste – wie selbstverständlich die Hilfe bei der Durchsetzung seiner Auffassungen gegenüber dem Bundeskanzler(-amt) und den anderen Ministerien. Oft war damit von manchen Kollegen viel zu wenig Verständnis dafür verbunden, dass es für mich keine gespaltene oder doppelte Loyalität geben konnte.

      Hinzu kamen – und auch das gehörte dazu – eine gute Portion Eifersucht, Neid über die vermeintliche Machtstellung bzw. deren Nutzung, abgesehen von der manchmal recht eigenwilligen, von Genscher geförderten und von Kohl in Nebenthemen geduldeten Interpretation des „Ressortprinzips“ seitens des AA versus „Richtlinienkompetenz“ des Bundeskanzlers.

      Zudem verstanden die gleichen Kollegen viel zu wenig, dass diese vermeintliche Macht „abgeleitet“ war und vom Kanzler jederzeit widerrufen werden konnte – und dass ich auch zuweilen unter unmissverständlicher Weisung seitens des Bundeskanzlers stand. Ich wäre immer der erste gewesen, der „seinen Hut hätte nehmen müssen“. Insofern führten Führungsstil und -methode von Helmut Kohl dazu, dass ich regelmäßig auf Risiko arbeiten musste und zwar auf mein eigenes Risiko.

      Oft genug habe ich im Kanzleramt versucht, das „Amt“ und die Kollegen im Zweifel zu unterstützen, zu schützen und dafür genug Prügel, manchmal von beiden Seiten, einstecken müssen. Einer der wenigen, der dies, wenn auch (zu) spät begriff, war der frühere Außenminister Kinkel, der in der Schlussphase erfahren musste, von eigenen Leuten im Stich gelassen zu werden.

      Manchmal kosteten die „Kollegen“ mich mehr Nerven und Anstrengung als es die Sache letztlich wert war. Viele freuten sich daher als „Gottes Strafe“ über die Wahlniederlage 1998, hofften auf meine sofortige Versetzung in den einstweiligen Ruhestand. Sie mussten sich noch ein wenig gedulden und mich als Botschafter zunächst bei der NATO in Brüssel, dann in Spanien ertragen. Mit anderen hat sich ein vertrauensvolles, je freundschaftliches Verhältnis bis heute erhalten, dafür bin ich ihnen dankbar.

      Zugleich gab es aber auch Kollegen aus anderen Häusern, mit denen ich diskret Kontakt hielt. Wir nutzten ein über die Jahre gewachsenes Vertrauensverhältnis, um uns gegenseitig auch über sensible Vorgänge zu unterrichten. Ich nenne insoweit bewusst Vizeadmiral Ulrich Weisser, er war einer der wenigen strategisch denkenden in der Bonner Szene, er war der Vertraute des selbstbewussten, oft an die Grenzen seiner „Autonomie“ gehenden Verteidigungsministers Volker Rühe und im Kanzleramt im Umfeld des Bundeskanzlers nicht wohl gelitten. Trotzdem hielten wir engen Kontakt, hielten uns diskret auf dem laufenden, ohne unbedingt unseren Chefs darüber alles zu berichten – für ihn wie