Grenzgänger: Deutsche Interessen und Verantwortung in und für Europa. Joachim Bitterlich. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Joachim Bitterlich
Издательство: Автор
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Жанр произведения: Историческая литература
Год издания: 0
isbn: 9783838274508
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Teilhabe mit Hilfe von Konsultationsmechanismen aufzunehmen. Und Berlin tut sich leider unverändert schwer mit dieser Frage, leider mit zum Teil einem Denken, das fern der Realität ist.

      „Deutschland-Frankreich“ war in vielen Bereichen ein „Geben und Nehmen“, ohne aber bewusst den Partner nicht zu überfordern. Kritische Phasen wurden so gemeinsam überwunden, auch wenn wir nicht immer sofort die „Ideallinie“ fanden.

      Grundlage für solche gemeinsame Vorgehensweisen bildete ein über Jahre aufgebautes Vertrauensverhältnis zwischen den Spitzen beider Seiten, das dem Partner letztlich die Sicherheit gab, nicht benachteiligt oder überfordert zu werden. Daraus sind über die Jahre auch Freundschaften erwachsen, ob zwischen Beamten oder Politikern. Helmut Kohl stand in all den Jahren zwei französischen Politikern besonders nahe – François Mitterrand und Jacques Delors. Über letzteren wird im Rahmen der Europa-Politik zu sprechen sein.

      Ich möchte auf das Verhältnis zu den beiden Präsidenten François Mitterrand und Jacques Chirac näher eingehen, zugleich aber auch die neun Premierminister Frankreichs nicht vergessen, mit denen es Helmut Kohl zu tun hatte.

      Helmut Kohl hat in den sechzehn Jahren seiner Kanzlerschaft insgesamt neun Premierminister an der Seite von zwei Staatspräsidenten erlebt, einige davon waren, wie man in Frankreich gerne sagt, präsidentiabel – und nur ein einziger schaffte es schließlich, und das war Jacques Chirac, im dritten Anlauf!

      Dies sagt aber nichts über das für den Partner nicht leicht zu durchschauende Verhältnis zwischen Staatspräsident und Premierminister. Vor der ersten „Cohabitation“ mit Chirac hatte Helmut Kohl bereits zwei Premierminister „erlebt“ (Pierre Mauroy und Laurent Fabius), in meiner Zeit sollten unter Mitterrand fünf weitere hinzukommen (Jacques Chirac, Michel Rocard, Edith Cresson, Pierre Bérégovoy, Edouard Balladur) sowie dann unter Chirac selbst zwei: Alain Juppé und Lionel Jospin.

      Der Bundeskanzler bezeichnete sich bei der dritten Cohabitation dann öfters scherzhaft als „Spezialisten“ im Umgang mit diesem französischen Phänomen, das mit den Koalitionsregierungen im deutschen Sinne nicht vergleichbar ist. Naturgemäß standen die Premierminister politisch und verfassungsmäßig im Schatten des Präsidenten, der eine oder andere versuchte es trotzdem, sich einen gewissen Freiraum zu verschaffen oder zu erkämpfen. Dies galt besonders in Zeiten der Cohabitation für Chirac selbst, für Edouard Balladur und für Lionel Jospin, aber auch in Zeiten „gleicher politischer Flagge“ für Michel Rocard oder Alain Juppé.

      Trotzdem suchte der Bundeskanzler, soweit möglich, zu dem einen oder andern ein vertrauensvolles Verhältnis aufzubauen. Ich denke insoweit besonders an Michel Rocard oder Alain Juppé, mit denen ich mich selbst freundschaftlich verbunden fühle, auch wenn sie ganz unterschiedliche Persönlichkeiten waren bzw. sind.

      Mit Michel Rocard bin ich nach seinem Ausscheiden „warm“ geworden, ich musste erst die besondere Persönlichkeit dieses Mannes kennen und schätzen lernen. Er wurde für mich zu einem älteren Freund, mit dem die Diskussion, ja der politische Disput immer eine Freude war. Er entpuppte sich als ein „Querdenker“, der die Diskussion, ja den inhaltlichen Disput zur Sache suchte, vom Inhalt her eher ein skandinavisch geprägter Sozialdemokrat, der einsehen musste, dass sich seine Partei nicht in diese Richtung entwickeln ließ. Die regelmäßigen Gespräche mit ihm bis zu seinem Tode im Jahre 2016 waren jedenfalls immer ein Vergnügen! Gerade die Gegensätze in der französischen Parteienlandschaft und Führungsstruktur, die einfach mit der deutschen politischen Kultur in keiner Weise vergleichbar oder vereinbar sind, waren für uns wie für andere aber nicht leicht zu handhaben.

      Wer hätte gedacht, dass zwei so unterschiedliche Persönlichkeiten, ein auf den ersten Blick so gegensätzliches „Paar“ wie Francois Mitterrand und Helmut Kohl, ein Tandem und in gewisser Weise auch Freunde werden sollten, die verantwortlich waren für den späteren europäischen Aufschwung und die Europa immer wieder auf das richtige Gleis setzten.

      Ich habe diese Beziehung oft als „europäische Komplizenschaft“ („complicité européenne“) bezeichnet, ein Wort, das in der Sprache unseres Nachbarn nicht nur den negativen Beigeschmack wie in der deutschen Sprache, sondern vor allem auch positiv im Sinne einer „gemeinsamen Verschwörung“ für eine gute Sache verstanden werden kann.

      Oft genügte bei Europäischen Räten ein Satz, ein Stichwort, das der andere – auch wenn er wie Mitterrand gerade dabei war, seine legendären Ansichtskarten zu schreiben – dann aufnahm und den Faden fortspann, die politische Idee weiterentwickelte. Es gab aber auch immer wieder Rücksichtnahme des einen auf die politischen Grenzen oder Sensibilitäten des Partners.

      Regelmäßig machte die Geschichte auch nicht halt vor seinen Gesprächen mit anderen Staats- und Regierungschefs, vor allem mit Präsident Mitterrand. Die beiden redeten ausgesprochen gern über Geschichte, ob es um den Widerstand während der Besetzung Frankreichs ging oder über den Algerienkrieg, um nur einige Themen zu nennen.

      Zu vorgerückter Stunde konnte es dann passieren, dass Hubert Védrine auf die Uhr schauen musste und vorsichtig bekannte: „Herr Bundeskanzler, Herr Präsident, in einer Stunde (oder in einer guten halben Stunde) wird die Presse auf Sie warten“.

      Daraufhin kam dann der Kommentar, zumeist von Mitterrand: „Ach ja, schon? Das Gespräch war jetzt viel interessanter als Euer Technokraten-Zeug“. Na gut – wir trugen dann vor, was wir vorbereitet hatten. Dann haben wir zusammen mit den beiden Chefs konzentriert die Tagesordnung durchgearbeitet. Das war nicht weiter schlimm, da sich die beiden gut kannten, ergänzten und wussten, wo evtl. Probleme und Fallen lauern könnten. Die beiden gingen raus vor die Presse und haben in Kurzform über die wesentlichen Sachthemen berichtet frei nach dem unausgesprochenen Motto: „Für weitere Fragen stehen die Herren Védrine und Bitterlich zur Verfügung.“ Das gute war, Hubert Védrine und ich, wir verstanden uns ausgezeichnet. Und an solchen Abenden haben wir Geschichte, auch vieles persönliches über unsere Chefs und ihren Lebensweg gelernt.

      Eines dieser Beispiele war der Algerien-Krieg, die ausstehende Aussöhnung Algerien-Frankreich. Auf Bitten von Helmut Kohl berichtete Mitterrand ohne Umschweife über das schwierige Verhältnis zum „früheren Departement“, seine Hintergründe und unerledigten Probleme. Unter Hinweis auf die Aussöhnung mit Frankreich und Polen bot der Bundeskanzler offen seine Mithilfe in Bezug auf Algerien an, wenn Frankreich dies wünsche. François Mitterrand schien nicht abgeneigt, doch die politische Klasse Frankreichs mochte von einer solchen Hilfestellung nichts wissen, und der Präsident war in der letzten Phase seiner zweiten Präsidentschaft zu geschwächt und durch seine Krankheit gezeichnet, um diesen Widerstand zu überwinden. Helmut Kohl interessierte sich als Politiker und Historiker für dieses hoch sensible, schwierige Kapitel französischer Geschichte und Gegenwart – und so stand dieses Thema zum Beispiel im Mittelpunkt eines faszinierenden Meinungsaustauschs mit dem marokkanischen König Hassan II Anfang Juni 1996 in Rabat. Hassan II war sich mit Helmut Kohl darin wohl einig, dass die Hilfe von Freunden zur Überwindung der inneren Blockaden in Frankreich nützlich sein könnte.

      Bei den Gesprächen sprach Mitterrand auch offen seine Jugend an, er, der aus einer rechten, katholisch geprägten Familie stammte, in Vichy mitgemacht hat und dann in den Widerstand ging. Védrine und ich hatten das Vergnügen, das bekannte Buch von Pierre Péan ein halbes Jahr vor Erscheinen kennen zu lernen. Kohl und Mitterrand diskutierten über ihre Jugendzeit, über Familiengeschichte und Mitterrand über seine Flucht aus Deutschland.

      Die Legendenbildung um die Feierlichkeiten anlässlich der 50. Wiederkehr der Landung der Alliierten in der Normandie am 6. Juni 1994 sind ein anderes typisches Beispiel für die Sensibilitäten im deutsch-französischen Verhältnis, aber auch für das persönliche Verhältnis Kohl-Mitterrand. Um die Nicht-Teilnahme des Bundeskanzlers haben sich – bis heute – eine Reihe von Legenden gerankt. Eine SPIEGEL-Anfrage anlässlich des runden Feiertages 2004 – an dem Bundeskanzler Gerhard Schröder teilnahm – hat mir dies eindrucksvoll vor Augen geführt.

      Ich