Grenzgänger: Deutsche Interessen und Verantwortung in und für Europa. Joachim Bitterlich. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Joachim Bitterlich
Издательство: Автор
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Жанр произведения: Историческая литература
Год издания: 0
isbn: 9783838274508
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Leitung der Abteilung für Außen-, Sicherheits- sowie Entwicklungspolitik im Bundeskanzleramt – kurz gesagt, der europapolitische, diplomatische und sicherheitspolitische Berater des Bundeskanzlers, für die Amerikaner der „national security advisor“ – eine im Geflecht der europäischen Länder einzigartige Position.

      Über elf Jahre intensiver, spannender Arbeit, Arbeitszeiten waren ein Fremdwort. Es waren Jahre epochaler Ereignisse sei es die deutsche Wiedervereinigung oder die Verhandlungen um Maastricht oder Amsterdam oder der Weg hin zur europäischen Währungsunion.

      Dr. Helmut Kohl entpuppte sich als ein ganz anderer „Chef“, als ich dies erwartet hatte. Anspruchsvoll, oft unbequem, immer wieder das politisch-strategische Vorausdenken fordernd, nie von einer Zuarbeit allein abhängig, sich oft auf mehrere voneinander unabhängige „Quellen“ stützend, sowie auf seine Erfahrung, seinen politischen Instinkt – der die Jugend oft genug bremsen, korrigieren, aber auch ermutigen sollte.

      Er war ein Mann, der unter vier Augen klar Widerspruch forderte und akzeptierte, der oft genug bereit war, erste Reaktionen oder Tendenzen zu hinterfragen, sie auch zu revidieren.

      Er war zugleich eine hoch sensible Persönlichkeit, vor allem in Bezug auf Loyalität, immer auf der Hut, er war ein Mann, der in der Regel jovial, freundschaftlich gegenüber seinen engen Mitarbeitern war, ja Zuneigung ausdrückend, mitunter auch frotzelnd, derb, grob, sich in Bildersprache ausdrückend, zuweilen polternd, ja auf den ersten Blick verletzend – ich lernte erst mit der Zeit, wie ich damit umzugehen hatte, wie ich den „Ausbruch“ einzuschätzen hatte, dass es in Wahrheit zumeist gar nicht so gemeint war.

      Als reine Provokation musste ich das „Pamphlet“ von Heribert Schwan „Vermächtnis – die Kohl-Protokolle“ empfinden. Seine Enttäuschung über das aufgekündigte Arbeitsverhältnis kann die unter klarem Bruch von Vereinbarungen erfolgte Veröffentlichung einer Zitatensammlung, die zudem immer wieder sichtbar aus dem Zusammenhang gerissen und nicht nur willkürlich erscheint, in keiner Weise rechtfertigen. Ich kann sie nur als gezielte verächtliche Verunglimpfung von Helmut Kohl, seiner Politik und Lebensleistung empfinden. Es hat mit einer politisch-historischen Auseinandersetzung mit der Kanzlerschaft Helmut Kohls nichts zu tun.

      Bei Lektüre der „Zitatensammlung“ Schwans habe ich mich gefragt, ob Schwan – der doch einige Jahre als „Ghostwriter“ an verschiedenen Werken mit Helmut Kohl gearbeitet hat – ihn wirklich je verstanden hat? Wäre dies der Fall, so hätte er gewusst, wie er die mitunter derben Einlassungen des Bundeskanzlers einzuordnen und wie er vor allem damit umzugehen hat! Auch ich habe dies über die Jahre erst lernen müssen. Man musste sich bei der von Helmut Kohl oft benutzten Sprache, zuweil in Bildern, immer wieder vor Augen führen und darüber nachdenken, warum er gerade dieses Bild und nicht ein anderes gebrauchte – und vor allem was er in der Sache damit meinte. Nicht nur die Bildersprache bedurfte des Nachdenkens, des Innehaltens, der Interpretation. Dies gilt auch für seine Sprache, oft umständlich, zuweilen schwer verständlich und doch letztlich klar.

      Kohl war selten ein guter Rhetoriker, seine Stärke waren die Debatten und das Erklären von Zusammenhängen und der daraus abzuleitenden Konsequenzen. Selbst für erfahrene Konferenzdolmetscher waren Helmut Kohl und seine Sprache regelmäßig eine Herausforderung – und es gab nur wenige, die dies mit Bravour schafften.

      Helmut Kohl bestand darauf, mit ihm im Gespräch „Klartext“ zu sprechen. Er mochte lange schriftliche Vorlagen nicht, suchte eher das Gespräch. Ich habe damals den Stil der Vorlagen an den Bundeskanzler für Gespräche und wichtige Begegnungen wesentlich verändert. Entsprechend dem, was ich in Paris an der ENA gelernt hatte, habe ich eine Zusammenfassung, eine Übersicht in Stichworten auf einer Seite vorangestellt bzw. einen knappen Gesprächsleitfaden. Und dem folgte dann eine längere Aufzeichnung mit der Erläuterung der Fragen und Problemstellungen im Einzelnen. Manche nennen das heute fortschrittlich neu-deutsch den „one pager“. Nun gut, ein copyright habe ich nie dafür beansprucht, mir ging es um Arbeitserleichterung für einen Mann, der weiß genug um die Ohren hat. Die Vorlagen an Helmut Schmidt, die ich in der Registratur entdeckte, über 20, 30 Seiten und mehr schienen mir für einen Bundeskanzler unzumutbar.

      Helmut Kohl akzeptierte „meine“ Methode rasch, er sagte mir zwar, für Einzelheiten könne ich ja, wenn es sein muss, dann übernehmen, gelesen hatte er aber immer die gesamte Vorlage. Aber er nahm sich auch komplexe Texte, ob in der Europa- oder internationalen Politik, vor, arbeitete sie durch, hakte nach, stellte Nachfragen – und konnte vor allem eines nicht leiden: diplomatisches Gerede um den Kern eines Problems herum!

      Mitunter nannte er mich den „Sklaventreiber“. Ich gab ihm öfters kurze, zuweilen auch handschriftliche Notizen mit Fragen oder Ideen ins Wochenende. Ich brauchte einfach seine Reaktion, um in wichtigen Streitfragen voran zu kommen. Und oft endete dies Montagabend im Gespräch und „brainstorming“....

      Der engere Kreis war für ihn zugleich willkommenes Ventil, oft für einen kurzen Moment oder eine gegebene Situation. Stunden später war der Fehler verziehen, die Attacke vergessen. Gerade in solchen etwas schwierigen Momenten war es oft genug Juliane Weber, die sich zuspitzende Momente abfederte, dem Betroffenen, wenn sie ihn mochte, ausgleichend, helfend zur Seite stand. Sie war nicht nur eine hervorragende Leiterin seines Büros, sondern in gewisser Weise die „Seele“ des Teams um Helmut Kohl.

      Wenn ich zurückdenke, ist der erste Begriff, der mir zur Beschreibung der Persönlichkeit von Helmut Kohl einfällt ist Pater Familias im alten lateinischen Sinne, ein Patriarch. Er behandelte seine engere Mannschaft im Grunde wie eine Familie.

      Man konnte auch mit einem persönlichen Problem zu ihm gehen, ihn um Rat fragen. Er konnte zuhören, man konnte mit ihm im kleinen Kreis offen gemeinsam nachdenken, unter vier Augen konnte man auch die herrschende Meinung attackieren, querdenken war insoweit nicht nur erlaubt, sondern erbeten.

      Zugleich war er der Bundeskanzler, der uneingeschränkte „Patron“ im guten Sinne dieser klassischen – französischen wie deutschen – Definition. Was er nicht duldete, war es, auch nur indirekt, seine Autorität in Anwesenheit von Dritten bzw. in einem etwas erweiterten Kreis in Frage zu stellen. Ich bin zwei, drei Mal in all den Jahren gerade in diese Falle gerauscht. Ich hatte es gewagt, ihm im Beisein des „erweiterten Kreises“ vorsichtig zu widersprechen bzw. ihn auf einen anderen Pfad zu locken, da ich bemerkt hatte, dass er sich einfach geirrt hatte.

      Leider neige ich dann auch dazu, Recht haben zu wollen, anstatt zu schweigen und Diplomat zu sein. Folge waren dann nicht nur einmal schwere Wochen, bis er dann die Entschuldigung akzeptierte – nachtragend war er dann aber auch nicht. Ich hoffe, er sieht es mir nach, wenn ich auch ihn letztlich als einen väterlichen Freund bezeichne.

      Frei nach Max Weber – „Politik als Beruf“ – verfügte Helmut Kohl über die drei entscheidenden Qualitäten des Politikers: Leidenschaft, Verantwortungsgefühl und Augenmaß! Hinzu kam eines: Helmut Kohl hatte längerfristige Zielvorstellungen, eine gewisse Vision – oder besser gesagt einen Kompass für seine politischen Vorstellungen. Dies galt insbesondere auch für die Grundparameter seiner Europa- und Außenpolitik wie für die Stellung Deutschlands in diesem Gefüge.

      Ich möchte versuchen, der Persönlichkeit Helmut Kohls und seinen politischen Überzeugungen, seinem Handeln mit Hilfe einer Reihe von konkreten Beispielen, Erlebnissen näher zu kommen; auf einige wird an anderer Stelle konkret einzugehen sein.

      Helmut Kohl war hochgebildet, im Gegensatz zu dem, was manche Journalisten verbreitet haben. Er versuchte aber zugleich, dies in eine Sprache zu übersetzen, die der Bürger, der Wähler auch verstehen konnte – eine Fähigkeit, die manchen Politikern heute abhandengekommen scheint. Für viele Angehörige der Bonner Szene und des Auswärtigen Amtes blieb er der Mann „aus der Provinz“., für manche Journalisten „Kohl = Birne“.