Abbildung 3 - Anzahl der Verordnungen von Mehtylphenidat, Atomoxetin und Lisdexamfetamin in Deutschland in den Jahren 2006 bis 2018(in Millionen DDD65)
Quelle: In Anlehnung an Lohse und Müller-Oerlinghausen (2019)66, zitiert nach de.statista.com
Lisdexamfetamin ist ein Abkömmling des Dexamfetamins und wird Kindern ab 6 Jahren verschrieben, die nur unzureichend auf eine Behandlung mit Methylphenidat reagieren. Seit seiner Einführung im Jahr 2013 erfreut sich das Medikament an Popularität - die Anzahl der Verordnungen steigt kontinuierlich an. Neben Ritalin und Lisdexamfetamin wird Kindern und Jugendlichen zudem Atomoxetin (Strattera) verschrieben. Es hat mit gehäuften Leberschäden und Angst, Depressionen und Aggressionen67 im Vergleich zu Ritalin sehr starke Nebenwirkungen, stellt aber auch nur die zweite Wahl bei der ADHS-Behandlung dar68. Im Vergleich zu Methylphenidat und Lisdexamfetamin wird Atomoxetin relativ selten verschrieben. Eine weitere medikamentöse Behandlung stellt die Vergabe von Amphetamin, hierzulande in Form von Attentin, dar. Auf dem amerikanischen Markt findet man außerdem Adderall, ein Gemisch aus Amphetamin-Salzen69.
2.5.2. Kritik
Nachdem es lange Zeit keine bekannten Langzeitschäden von Ritalin gab, da Studien fehlten, die sich mit der Thematik auseinandersetzten, gibt es mittlerweile erkennbare Langzeitfolgen. Lissa und Rivkees (2003) stellen fest, dass Ritalin in den ersten zwei Jahren der Medikation das Körperwachstum von Kindern um 2-3 Zentimeter hemmt, während das Gewicht weiterhin normal zunimmt70. Erst 2016 fanden Feuer et al. heraus, dass zu den möglichen Langzeitschäden von Ritalin eine verringerte Knochendichte bis hin zur Osteoporose gehören. In der Jugend und dem jungen Erwachsenenalter werden die Knochen gestärkt und die Knochendichte aufgebaut. So weist vor allem die Einnahme von Stimulanzien in diesem Lebensabschnitt bleibende Folgen auf, da der Aufbau gesunder Knochen später nicht nachgeholt werden kann71.
Lydia Mary Furman (2008) beobachtet eine hohe Komorbidität (60-80%) zwischen ADHS und anderen psychischen Erkrankungen. Diese sind vor allem oppositionelles Trotzverhalten, eine Störung des Sozialverhaltens, Depressionen und Angst- und Lernstörungen. Sie schlussfolgert, dass ADHS weniger als eine neurobiologische Erkrankung zu sehen ist, sondern stattdessen als eine Konstellation von Symptomen, welchen Aufmerksamkeit geschenkt werden muss. Sie stellt fest, dass Kinder, aber auch Erwachsene, bei denen Hyperaktivität, Impulsivität oder Unaufmerksamkeit beobachtet wird, stattdessen medizinische, emotionale oder psychosoziale Konditionen besitzen, um die sich die Medizin kümmern sollte.72
Die Kritik gegenüber einer medikamentösen Behandlung verbreitet sich zunehmend in Expertenkreisen: Der internationale Suchtstoffkontrollrat äußert seine Bedenken gegenüber einer möglichen Überdiagnose von ADHS und einer daraus resultierenden Überverschreibung von Psychostimulanzien wie Ritalin. Ritalin solle nicht mehr für potenzielle Kunden beworben werden73. Der Psychologe Andreas Müller befürchtet, dass beinah 40-50% aller ADHS-Diagnosen fälschlicherweise getroffen werden74. Kritiker einer medikamentösen Behandlung betonen, dass Ritalin keine dauerhaften Verhaltensänderungen hervorrufe, die effektiver wären, als die einer psychotherapeutischen oder hausärztlichen Behandlung75. Sie kritisieren, dass Ritalin als leichte Droge Kinder und Jugendliche nur künstlich-pharmakologisch ruhig halte, anstatt eine reale und dauerhafte Verbesserung für die Betroffenen zu bewirken.
Fleishman und Kaliski (2017) stellen fest, dass für viele Jugendliche ADHS weniger als eine Krankheit von den Betroffenen wahrgenommen wird, sondern mehr als Charakterzug, welcher Vor- und Nachteile mit sich bringt. Die befragten Jugendlichen kritisieren, dass sie durch den Konsum von Ritalin weniger glücklich seien und sie sich in sozialen Situationen durch das Medikament eingeschränkt fühlten. Die meisten Teilnehmenden berichten, dass Ritalin ihre Präferenzen verändert. Das Verlangen nach körperlicher Aktivität und sozialer Interaktion sei verringert, während der Wunsch, still zu sitzen und zu lernen vergrößert werden würde. Was für die Eltern und Lehrer*innen eine erfreuliche Nachricht sein mag, sehen die Jugendlichen aber eher negativ. Sie haben das Gefühl, die Autonomie über ihr Leben zu verlieren und Gefühle weniger intensiv wahrzunehmen. Dabei beschreiben sich mehrere Jugendliche unter dem Einfluss von Ritalin als apathisch, als „nicht depressiv, aber weniger glücklich“76. Unter Einfluss des Medikaments würden sie sich nur noch auf einzelne Sachen konzentrieren, was die soziale Interaktion der meisten Teilnehmenden negativ beeinträchtige. Die Auswirkung auf das Verhalten durch das Medikament wird erst nach dem Absetzen von Selbigem oder durch Feedback von Dritten wirklich realisiert. Die Teilnehmenden sehen ADHS als einen Teil ihrer Persönlichkeit, die ihnen einerseits Probleme bereitet und ihnen das Lernen erschwert, die ihnen aber andererseits mit Spontanität, Energie und sozialen Fähigkeiten das Leben erfüllt. Die befragten Jugendlichen geben teilweise an, dass sie auf eine „freiwillige Selbstmedikation“77 umgestiegen sind: In ihrem Privatleben verzichten sie auf den Einsatz des Medikaments, wenn sie für Prüfungen lernen oder Prüfungen schreiben, setzen sie es wieder ein, um sich die konzentrationssteigernde Wirkung zunutze zu machen78.
Auch die psychologischen Folgen können durchaus negativ sein: Diagnostizierte Kinder wachsen in dem Bewusstsein heran, dass sie unter einer hirnfunktionell bedingten Störung leiden, dass irgendwas mit ihnen nicht stimmt. Dies hat negative Folgen für das Selbstwertgefühl. Die darauffolgende Vergabe des Medikaments werde nicht selten als Strafe für unangebrachtes, negativ gedeutetes Verhalten erlebt79.
2.5.3. Schlussfolgerung
Ritalin zeigt bei den Kindern und Jugendlichen, die es konsumieren, in der Regel die erwünschten Effekte: Ein erhöhter Fokus, bessere Schulnoten, weniger impulsives Verhalten und eine erhöhte soziale Kompetenz. Auf der anderen Seite steht die Fragwürdigkeit einer dauerhaften Medikation. Zu den langfristigen Nebenwirkungen gibt es bisher nur spärliche Studien und die unmittelbaren Nebenwirkungen scheinen, im Kontrast