Damit ein Kind oder Jugendlicher die Diagnose ADHS bekommt, muss eine bestimmte Anzahl von Aufmerksamkeitsschwierigkeiten zu Hause, als auch in der Schule oder im Kindergarten auftreten. Die Diagnose wird in der Regel über standardisierte Fragebögen gestellt. In Deutschland wird dafür der Fremdbeurteilungsbogen für Hyperkinetische Störungen (FBB-HKS) verwendet. Ab einem Alter von elf Jahren kann der Selbstbeurteilungsbogen für Hyperkinetische Störungen eingesetzt werden (SBB-HKS)9. Die Fragebögen werden unabhängig voneinander von Lehrern und Lehrerinnen oder Erziehern und Eltern ausgefüllt. Dadurch sollen die verschiedenen Lebensbereiche der Klienten beleuchtet und ein unbeeinflusstes Bild erzeugt werden. Die Fragebögen helfen vor allem den Ärzten, die in der Behandlungszeit häufig nicht alle Symptome erfassen können. Ist eine bestimmte Anzahl von Symptomen in einer gewissen Stärke aufzufinden, ist eine Diagnose mit ADHS wahrscheinlich. Die Skalen bestehen aus Verhaltensweisen, die mit einer Ratingskala ausgestattet sind. Hierzu gehören Verhaltensmuster, wie ständige motorische Unruhe, mangelnde Ausdauer beim Spielen, kurze Dauer von spielerischen Beschäftigungen und eine ausgeprägte Aktivität in Situationen, die relative Ruhe verlangen. Weitere Kriterien sind „Abnormitäten von Aufmerksamkeit oder Aktivität“, die in Anbetracht des Alters und des Entwicklungsstandes des Kindes sehr ausgeprägt sind10.Außerdem müssen andere, tiefgreifende Entwicklungsstörungen ausgeschlossen werden können. Die Symptomatik muss mindestens 6 Monate anhalten und bereits vor dem sechsten Lebensjahr aufgetreten sein. Weiterhin muss der Intelligenzquotient über 50 liegen und die Kriterien für Manie, Depression oder Angststörung dürfen nicht erfüllt sein. Neben den Fragebögen und Checklisten kann eine Diagnose außerdem mit psychologischen Tests oder durch neurobiologische Verfahren durchgeführt werden. Etwa ein Drittel aller Jugendlichen mit ADHS zeigt auch noch im Erwachsenenalter einzelne ADHS-Symptome11.
Die deutsche Ärztekammer (2005) empfiehlt eine multiaxiale Diagnostik, die die Störung auf sechs Ebenen abbildet. Diese Ebenen bestehen aus
klinisch-psychiatrischen Syndromen,
umschriebenen Entwicklungsstörungen,
Intelligenzniveau,
körperlicher Symptomatik,
assoziierte aktuelle abnorme psychosoziale Umstände
und der globalen Beurteilung des psychosozialen Funktionsniveaus.
Eine Diagnostik nur auf Grundlage von Fragebögen oder testpsychologischen Untersuchungen sei nicht möglich12. Döpfner und Lehmkuhl (2007) zeigen im folgenden Entscheidungsbaum (Abbildung 1) zur Diagnose von ADHS, welche anderen Erkrankungen ausgeschlossen werden müssen, damit eine sichere Diagnose ADHS gestellt werden kann.
Abbildung 1 – Entscheidungsbaum für die Diagnose hyperkinetischer Störungen
Quelle: In Anlehnung an Döpfner, Lehmkuhl, Schepker, Frölich, (2007)13
Eine ADHS-Diagnose hat nicht nur eine Therapie bzw. Behandlung zur Folge, sondern auch psychologische Konsequenzen für die betroffenen Kinder und Jugendlichen: Das Selbstwertgefühl kann beeinträchtigt werden, da Kinder im Bewusstsein einer hirnfunktionell bedingten Störung heranwachsen. Sie werden außerdem mit dem Gedanken konfrontiert, dass etwas mit ihnen nicht stimmt, dass sie verrückt seien14.
2.2. Prävalenz
Die Prävalenz, also die Häufigkeit einer Krankheit in der Bevölkerung zu einem bestimmten Zeitpunkt, von ADHS variiert weltweit sehr stark und reicht von angeblich 0,09% in England bis zu 28% in Israel15. Die Werte hängen davon ab, wie man ADHS jeweils definiert, welche Bevölkerungsgruppe untersucht wird und inwieweit Eltern, Lehrer*innen und Fachleute mit der Diagnose übereinstimmen.
Auch in Deutschland sind verschiedene Werte zur Prävalenz von ADHS zu verzeichnen, die meisten seriösen Studien stellen allerdings eine Prävalenz von 4,2-5,0 % fest. Aktuelle Daten liefern die Querschnittergebnisse aus der KIGGS („Studie zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland“) Welle 2 (2014 – 2017) – der zweiten Folgeerhebung der Studie zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland im Alter von drei bis siebzehn Jahren. In der KIGGS Welle geben 4,4% der Eltern an, dass ihr Kind jemals eine ADHS-Diagnose durch einen Arzt oder Psychologen erhalten hat. Dabei ist zu beobachten, dass mehr als doppelt so viele Jungen (6,5%) als Mädchen (2,3%) betroffen sind. In anderen Umfragen sind Jungen sogar viermal so häufig betroffen wie Mädchen. Während im Kindesalter noch eine niedrige Prävalenz herrscht (0,2%), steigt diese mit dem Schuleintritt, wohl aufgrund der größeren benötigten Konzentration (2,1% ab sechs Jahren) und erreicht ihren Höhepunkt in der Jugend mit einer Prävalenz von 6,9%. Weiterhin ist zu beobachten, dass Kinder und Jugendliche, die in Familien mit einem niedrigen sozioökonomischen Status aufwachsen, signifikant häufiger von ADHS betroffen sind als Gleichaltrige aus sozial bessergestellten Familien. Vergleicht man KIGGS Welle 1 und 2 miteinander ist allerdings ein leichter Rückgang der ADHS-Diagnosehäufigkeit festzustellen. Als Quelle dafür dienen Abrechnungsdaten der Krankenkassen16.
Grobe stellt fest, dass ein junges Alter der Eltern bei der Geburt sowie der Bezug von Arbeitslosengeld oder Sozialhilfe das Risiko einer ADHS-Diagnose erhöhen. Kinder von Eltern mit Universitäts- oder Hochschulabschluss haben dagegen ein etwa geringeres Risiko, eine ADHS-Diagnose zu bekommen17. In Deutschland sind außerdem starke regionale Unterschiede bei der ADHS-Prävalenz zu beobachten. In Unterfranken erhält im deutschen Vergleich die höchste Anzahl an Kindern und Jugendlichen eine F90-Diagnose18. Während in den restlichen Gebieten von Deutschland die Diagnoserate F90 bei 11-jährigen Jungen durchschnittlich bei 12 % liegen, so sind in Unterfranken mehr als 18 % der Jungen betroffen. Bei den Mädchen liegt die deutschlandweite Diagnoserate bei etwa 4 %, in Unterfranken sind es wiederum 8,5 % der Mädchen im Alter von 11 Jahren, die eine F90-Diagnose erhalten.19.
2.3. Erklärungsmodelle
Es gibt in der Medizin noch keine deutliche Klarheit über die tatsächliche Ursache der Störung. Organische Faktoren in Form von diskreter Hirnfunktionsstörung seien ebenso beteiligt wie pränatale Traumata. Auch genetische Faktoren seien aufgrund des unausgeglichenen Geschlechterverhältnisses denkbar20. Es existieren verschiedene Theorien zu der Entstehung von ADHS, welche im Folgenden dargestellt werden. Eine endgültige Ursache wird die zukünftige Forschung belegen müssen.
2.3.1. Dopaminmangeltheorie