Skeleton Tree. Iain Lawrence. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Iain Lawrence
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Книги для детей: прочее
Год издания: 0
isbn: 9783772546730
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      IAIN LAWRENCE

      SKELETON TREE

      Nur die Wilden überleben

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      Aus dem Englischen von

      Anne Brauner

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       Für Françoise In glücklicher Erinnerung

      INHALT

       1Der letzte Morgen

       2Der Draufgänger

       3Das Rettungsboot

       4Die Hütte

       5Der Rabe

       6Die Begrenzung unserer Welt

       7Das Flugzeug

       8Der Berg

       9Maden

       10Die alte Straße

       11Der Grizzlybär

       12Der Geist meines Vaters

       13Der Heilige aus Holz

       14Der Glasfisch

       15Der letzte Morgen

       16Thursdays Geschenk

       Anmerkungen des Autors

       Danksagung

      1

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      Der letzte Morgen

      Wenn ich nachts aufwache, habe ich Angst.

      Ich liege mit offenen Augen da, blicke in die Schwärze und lausche jedem einzelnen Geräusch im Wald. Die Decke oder die Wände der Hütte kann ich nicht sehen. Frank kann ich auch nicht sehen und befürchte einen Augenblick lang, dass er nicht mehr da ist. Doch dann höre ich in der Dunkelheit das Flattern seines Atems und fühle mich sofort sicherer, weil er in meiner Nähe ist.

      Früher hatte ich ständig Angst, und nachts war es am schlimmsten. Wenn die Sonne unterging, hätte ich schreien können. Das hat sich geändert. Mittlerweile habe ich vieles über den Wald und das Meer und so einiges über mich selbst gelernt. Doch wenn ich nachts aufwache, fürchte ich mich immer noch.

      Draußen im Wald wartet etwas. Es ist so still und reglos wie ich selbst, weil wir beide lauschen.

      Ist es der Grizzlybär? Ich stelle mir vor, wie er riesenhaft und zottelig gleich neben der Hütte steht und uns nur die paar Zentimeter Wand voneinander trennen. Es könnte aber auch ein Wolf sein. Wir haben sie heulen hören, jede Nacht ein wenig näher. Oder es ist ein Mann – oder sogar ein Skelett. Ich habe gehört, wie sie sich in ihren Särgen drehen. Das ist der Stoff meiner Albträume, der sich in meinen Gedanken im Kreis dreht und mich wahnsinnig macht.

      Als Erstes denke ich stets an die schlimmsten Dinge. Vermutlich ist es nur ein Eichhörnchen. Oder es ist ein Reh, das im nächsten Augenblick die Flucht ergreift und mit langen Sätzen lärmend durch den Wald springt. Ich hoffe, es ist mein nachtschwarzer Rabe, der endlich von seinen Ausflügen zurückkehrt. Doch ich habe Angst, ihn zu rufen. Durch die Hüttenwand, durch die nächtliche Stille spüren wir, wie der andere wartet. Wir sind nur zwei lebendige Wesen in der Dunkelheit.

      Keine Ahnung, wie viel Zeit vergeht, bis es am Fenster heller wird. Es dauert Stunden, aber vielleicht fühlt sich das auch nur so an. Doch lange vor Sonnenaufgang glänzt das Rechteck aus Plastik allmählich grau. Schatten von Bäumen tauchen auf wie Radierungen in einer Schieferplatte. Durch die Ritzen in der Hüttenwand dringen schmale goldene Lichtstrahlen.

      Mit dem Morgen schwinden meine Ängste. Genau wie das Ding im Wald. Obwohl es keinen plötzlichen Lärm gibt, keine stampfenden Schritte und ich nicht höre, wie es weggeht, weiß ich, dass es nicht mehr da ist. Ich habe lange genug in der Wildnis gelebt, um so etwas zu spüren.

      Jetzt geht es schnell. Die Dunkelheit in der Hütte verflüchtigt sich zu Schatten, und die Schatten verändern sich, je härter ihre Kanten werden. Pilze sprießen aus dem Boden und werden zu den Steinen der Feuerstelle. Ein Tier mit mageren Beinen verwandelt sich in unseren Tisch aus Treibholz. Abscheuliche Männer stehen in der Ecke, um schließlich in die Plastikumhänge an den Kleiderhaken zu schlüpfen.

      Ich erkenne den Stapel Brennholz, die Wasserflaschen und die Schuhe, die sich unter dem Tisch häufen. Ich glaube, bei den Schuhen ist es mit mir durchgegangen. Ich sehe das Zeug, das ich vom Strand angeschleppt habe und das Frank als Müll bezeichnet. Es bedeutet mir so viel, weil es aus Japan übers Meer kam. Über diese Gegenstände denke ich gern nach und erfinde Geschichten dazu.

      Knapp über dem Boden, wo Frank schläft, zeigen helle Kerben in der Wand, wie viele Tage vergangen sind. Sie quetschen sich aneinander und verschwimmen zu einem langen Schmutzfleck wie die Tage selbst: dreißig, vierzig, fünfzig und einer wie der andere.

      Dann fällt mir ein, dass dieser Tag anders ist. Heute ist der Tag, an dem wir gerettet werden.

      Es ist noch früh, mindestens eine Stunde vor dem Morgengrauen. Doch so lange kann ich nicht warten. Ich muss zu dem Skeleton Tree hinuntergehen, unserem Skelettbaum.

      Ich wälze mich aus dem Bett und kauere über Frank. Es ist noch nicht lange her, seit ich Angst gehabt hätte, ihn auf diese Weise zu wecken. Er wäre sehr schnell sehr wütend geworden. Doch heute Morgen macht es ihm sicher nichts aus. Ich rüttle an seiner Schulter, rufe seinen Namen, und schon fliegen seine Fäuste nach oben, um zu kämpfen. Schreiend weicht er zurück und stößt sich den Rücken an der Hüttenwand. Seine Augen sind groß und verwundert, und als er mich sieht, stöhnt er. «Was ist mit dir los?», fragt er. «Bist du verrückt geworden?»

      «Heute ist der Tag», sage ich zu ihm.

      «Hör auf, mich anzuschreien», murrt er.

      Ich verstehe nicht, warum er nicht aufgeregt ist. Frank ist nur drei Jahre älter als ich, also noch nicht einmal sechzehn. Aber manchmal könnte man meinen, er wäre fast erwachsen. Er fährt sich durch sein stumpfes Haar und sieht mit zusammengekniffenen Augen zum Fenster. «Es ist nicht einmal Morgen, Chris.»

      «Aber vielleicht landen sie ja in diesem Moment», sage