Deshalb bin ich ein Verfechter einsamer Entscheidungen. Zuerst mag das paradox klingen von einem, der sich gerade für eine Umverteilung der Entscheidungsmacht ausgesprochen hat. Doch wenn die Entscheidungsbefugnisse jeder Führungskraft und jedes Mitarbeiters klar umrissen sind, dann teilen wir auch die Einsamkeit des Entscheiders miteinander. Und für diese Einsamkeit gibt es ebenfalls ein treffendes Wort, das uns im Folgenden noch häufiger begegnen wird: Verantwortung.
Verantwortung bringt ein gewisses Maß an Einsamkeit mit sich. Jede Führungskraft weiß das aus eigenem Erleben. André Lüthi, seines Zeichens Travel Ambassador und so etwas wie der Richard Branson der Schweiz, also ein echter Parade-Unternehmer, schrieb mir kürzlich: „Führen heißt oft allein sein. Darauf wird man nirgends vorbereitet. Leider.“ Mich hat das sehr berührt, weil ich André schon lange kenne und weiß, mit welcher Leidenschaft er für seine Ziele kämpft. Ein starker Leader, der ganz intensives Teamwork betreibt – und der fühlt sich allein?
Seiner Botschaft hängte er ein Bild von sich an. Es war bei seiner Expedition zum Nordpol entstanden. Auf dem Bild ist er allein inmitten der Eismassen zu sehen. So einsam, wie er sich bei dieser monströsen Herausforderung fühlte. Obwohl Freunde dabei waren. Ein Sinnbild für die Einsamkeit des Leaders.
Erst durch das Bild verstand ich wirklich, was André meinte: Je mächtiger, also befugter wir sind, desto einsamer werden wir. Und je einsamer wir eine Entscheidung treffen, desto verantwortungsvoller treffen wir sie. Das ist ein ambivalenter Aspekt von Führung, der nicht immer nur schön ist. Doch da sich Verantwortung nicht delegieren lässt, gehört er zu den unverrückbaren Seiten des Führungsalltags: Einsam sein heißt selbstverantwortlich handeln und entscheiden. Ich bin der festen Überzeugung, dass diese Einsamkeit, die ja keine soziale ist, sondern nur eine philosophische, den Entscheider sogar erdet. Sie macht ihn nicht etwa asozialer, sondern vielmehr zu einem besseren Leader.
Diese Einsamkeit zu spüren, ist ein Teil des Lernprozesses jeder Führungskraft und jedes Mitarbeiters, wenn er mit einem Mehr an Entscheidungsbefugnissen – und damit auch einem Mehr an Verantwortung – ausgestattet wird. Und das ist notwendig. Denn jetzt kommt der Knackpunkt, warum die Umverteilung der Entscheidungsmacht so wichtig ist: Sie können als Führungskraft nicht alles entscheiden. Genau die Situationen, in denen es auf eine schnelle, pragmatische Lösung ankommt, sind genau die, die beim Kunden zählen. Wer auch immer in diesem Moment am Drücker ist, muss die Verantwortung spüren, dass in diesem Moment der Wahrheit alles von seiner Entscheidung abhängt. Ein gefühlter Mitunternehmer wird in so einer Situation aufblühen. Ein Corporate Monkey wird unter der Last der Verantwortung zusammenbrechen. Denn wer einsam entscheiden darf, kann die Verantwortung nirgendwohin delegieren.
Wenn ich an der Hotelrezeption stehe und mein Ladegerät vergessen habe, was will ich dann? Ich will nicht, dass die Rezeptionistin ihren Vorgesetzten fragt, der seinen Vorgesetzten fragt. Und ganz besonders will ich nicht, dass die Rezeptionistin mich wissen lässt, dass sie mir leider nicht helfen kann. Weil sie nicht die Befugnis hat. Ich will mein Handy laden, verdammt noch mal. Keinen Grundkurs in schlechter Führung. Wenn Ihr Kunde anruft und eine schnelle Lösung braucht, dann steht alles auf dem Spiel. Wenn er mit jemandem spricht, der nichts entscheiden kann, verpassen Sie einen Moment der Wahrheit. Eine wichtige Chance. Und genau diese kleinen Momente entscheiden über die Kundenzufriedenheit.
Und dann ist der Punkt erreicht, an dem die Einsamkeit tatsächlich in Motivation umschlägt: Wenn der Mitarbeiter jetzt die richtige Entscheidung trifft – und das tut er, richtig geschult und vorbereitet, in 95 Prozent der Fälle –, dann ist die Kundenzufriedenheit in diesem Moment sein Erfolg und sein Erfolg der Erfolg des Unternehmens.
Das ist Motivation. Und erzeugt wurde sie durch Freiheit. Durch die Freiheit zu entscheiden. Wer einsam entscheidet – innerhalb eines durch die Führung klar gesetzten Verantwortungsbereichs –, darf auch den Erfolg für sich in Anspruch nehmen. Und das erzeugt eben keinen Ego-Trip. Der entsteht immer aus einem Mangel heraus, immer aus dem Bedürfnis der Bestandswahrung und einem Machtanspruch. Und dies hat nur, wer keine Macht hat, wer sich „ohn-mächtig“ fühlt. Wer den Erfolg der eigenen Entscheidung dagegen genießen darf, der empfindet kein Defizit, sondern Verbundenheit.
So entsteht Mitarbeiterzufriedenheit. Nicht indem wir einmal im Jahr vom Thron heruntersteigen und mit den Mitarbeitern zum Rafting fahren. Und so entsteht auch: Kundenbegeisterung. Nicht, indem wir versuchen, Prozesse für alle möglichen Entscheidungen in Meetings zu verabschieden, die in der Realität am Kunden dann doch nie zum Tragen kommen.
Deshalb bin ich überzeugt: Ein schlagkräftiges Unternehmen besteht nicht aus Entscheidern auf der einen und Mitarbeitern auf der anderen Seite. Ein schlagkräftiges Unternehmen besteht aus lauter Entscheidern, die alle auf eine gemeinsame Mission hinarbeiten. Nämlich auf begeisterte Kunden. Das kann ich sein, wenn ich mein Handy laden will. Oder Sie, wenn Sie Ihren Lieblings-Whisky wollen. Oder Ihr Kunde, der sich eine andere Lackierung wünscht. So eine Kleinigkeit, aber so eine große Chance.
Die Einsamkeit des Entscheiders ist eine unvermeidliche Nebenwirkung von Verantwortung. Ob sie sich produktiv oder destruktiv auswirkt, ist allein eine Frage des Ermächtigungsgrads.
Die Einsamkeit des Ermächtigten ist produktiv. Die Einsamkeit des Ohnmächtigen ist destruktiv.
ENTSCHEIDEN IN DER PRAXIS: FREIHEIT SCHLÄGT GELD
Ein häufiger Einwand gegen eine Kultur der unabhängigen Entscheidungen ist: Wer soll das bezahlen? Schließlich könnte der Mitarbeiter Kosten verursachen, weil er die Folgen seiner Entscheidung gar nicht überblickt.
Doch bei der Frage, ob wir unsere Führungskräfte durch größere Entscheidungs- und Handlungsfreiheit ermächtigen oder nicht, geht es gar nicht in erster Linie um Geld. Unternehmer, die nur in dieser Dimension denken, stehen sich selbst im Weg. Unternehmer, die den Mut zur Umverteilung der operativen Macht aufbringen, können dagegen flexibler auf Herausforderungen reagieren – und sparen dadurch in aller Regel noch Geld, weil sie ihre Inhouse-Ressourcen besser nutzen oder überhaupt erst freilegen.
Den Unterschied verdeutlicht folgende Geschichte über das typisch amerikanische Modell des Managements, die ich im Internet fand.
Das Bootsrennen
Eine japanische und eine amerikanische Firma treten in einem Bootsrennen gegeneinander an. Beide Teams trainieren wie besessen, um beim Rennen ihre Bestleistung zu zeigen.
Als es so weit ist, gewinnen die Japaner mit einer Meile Vorsprung. Die Amerikaner sind am Boden zerstört. Sie leiten sofort eine Untersuchung ein, um die Gründe für ihren Untergang zu analysieren. Ein Team von Senior-Managern wird gebildet, um die Untersuchung zu leiten und Maßnahmen vorzuschlagen. Sie kommen zu dem Schluss, dass die Japaner acht Ruderer und einen Steuermann hatten, während die Amerikaner acht Steuermänner und einen Ruderer hatten.
Also heuern die Amerikaner eine Unternehmensberatung an. Sie bezahlen viel Geld für eine zweite Meinung. Die Unternehmensberatung kommt zu dem Schluss, dass zu viele Leute das amerikanische Boot gesteuert und zu wenige gerudert haben.
Um eine weitere Niederlage gegen die Japaner zu verhindern, wird das amerikanische Ruderteam umgebaut: in vier Steuer-Supervisors, drei regionale Steuer-Superintendents und einen Assistant-Steuer-Manager. Außerdem wird ein leistungsorientiertes Vergütungssystem eingeführt. Es bietet dem einen Ruderer höhere Incentives, damit er härter arbeitet. Das Programm bekommt den Titel „1. Ruderteam-Qualitätsoffensive“. Meetings und Dinners werden veranstaltet, und der Ruderer bekommt Gratis-Kugelschreiber.