Deutsches Leben der Gegenwart. Paul Bekker. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Paul Bekker
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 4064066118716
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sehnend dem Unendlichen zugewandt; im Zeitalter Nietzsches, Bergsons, Simmels lodert ihr Wollen und Sehnen in metaphysischer Glut zum Endlichen, zur Wirklichkeit, zum Leben zurück. Das Leben wird ihr zum höchsten, zum einzigen Wert. Ihre Gestalten sind Kinder der Reflexion und der Sehnsucht wie sie, oder ihr Wunsch und Gegenbild: Kinder des Lebens.

      Metaphysisch klingt — nach den noch knospenhaften "Erinnerungen von Ludolf Ursleu dem Jüngeren" — die Musik von der Schönheit und Furchtbarkeit des Lebens in den Skizzen "Aus der Triumphgasse", kosmisch klingt sie in "Von den Königen und der Krone". Über diese metaphysische und kosmische Gelöstheit drängen die historischen Romane zur Wirklichkeit, zum plastisch Greifbaren, Festbeharrenden. "Die Geschichten von Garibaldi" gestalten den Befreier Italiens zur herrlichsten Verkörperung, zum mystisch-gewaltigen Symbol des Lebens, das alle Lebenssehnsucht der Dichterin strahlend aufnimmt. Wie "ein tragisches Vorspiel" zur siegreichen Erhebung der Garibaldi-Romane klingt "Das Leben des Grafen Frederigo Confalonieri", des dem Tode verfallenen im Kerker begrabenen Helden und Märtyrers. In jenen hatte noch episch-plastischer und lyrisch-musikalischer Stil gewechselt, hier durchdringen sich beide, rein, ruhig, ausgeglichen.

      Bald aber drängt die Sehnsucht zur Wirklichkeit Ricarda Huch auch aus dieser Gelöstheit zum einseitigen, seelisch-herbsten Bericht der drei Bände: "Der Große Krieg in Deutschland", die sie nicht mehr Roman, sondern "Darstellung" nennt. Harte Gegenständlichkeit, strengste Unpersönlichkeit geben die unerschöpfliche Fülle des Dreißigjährigen Krieges, der Geschehnisse, der Völker, der Generationen. Historisches, Kulturgeschichtliches, Religionsgeschichtliches, Diplomatisches, Strategisches, Biographisches treibt in endloser Bilderfolge, in gleichgültigem epischem Strom vorüber. Gestalten und Schicksale tauchen auf und sinken unter, ruhelos, übergraut von einem lastenden Himmel, der sich immer tiefer herabsenkt. Der Strom der Individuation selber scheint an uns vorüberzuziehen und uns in erdrückender Traurigkeit die lähmende Frage Friedrich Spees zuzurauschen: "Das eine hatte er erfahren: unermeßlich weit war die Erde von Gott; und wenn sie nun, so fragte er sich zuweilen schaudernd, unerreichbar weit von ihm wäre?"

      Aus der Wirklichkeit, die sie hier endlich gefunden, klagt der Dichterin das alte Lied ihrer Seele dunkel und erstarrt entgegen. —

      In der Geschichte den tieferen Sinn des Lebens zu suchen, den die zersetzte Gegenwart ihnen vorenthält, ist die Ausflucht mehrerer Epiker geworden, am bedeutsamsten für Wilhelm Schäfer (geb. 1868) im "Lebenstag eines Menschenfreundes". Wie in diesem Pestalozzi-Roman die Wanderung des unermüdlichen Volks- und Menschenfreundes durch Suchen, Irren, Leiden, Verspottung und Verrat zur neuen Menschlichkeit aufwärts dringt, als Landwirt, "Armennarr" und Schriftsteller, als Waisenvater und als Winkelschulmeister, bis endlich der Greis seinen Menschheitsweg erkannt und erkämpft und der europäischen Erziehung erschlossen hat, das ist in ergreifender, reiner Menschlichkeit, in epischer Schlichtheit und Klarheit dargestellt. Die Tapferkeit und Siegkraft dieses einzelnen und Vergangenes wird Vorbild und Aufgabe allen Künftigen.

      — — — Gegenüber dem industrialisierten, von Großstädten zersetzten Norden Deutschlands ist der Süden reicher an Unmittelbarkeit, Menschlichkeit, Wurzelkraft geblieben. Emil Strauß und Hermann Hesse wachsen aus diesem Zusammenhang. Emil Strauß (geb. 1866) hat sich Heimat und Fremde, Baden und Brasilien, als Dichter, Bauer und Farmer vertraut und eigen gemacht. Voll männlicher Klarheit und Tatkraft hat er mit dem Leben gerungen, ohne durch Enttäuschung, Leid und Krankheit niedergeworfen oder ungerecht zu werden. In Freiheit, Liebe und Güte blieb er der Sieger. Er sieht und zeichnet die Wirklichkeit in festen, sicheren Linien und überglänzt sie doch mit dem überirdischen Schimmer seines Humors. Im "Engelwirt" schildert er einen Schwaben, der das Schicksal überlisten will, der — da ihm die eigene Frau keinen Erben schenkt — sich in schlauer Ausflucht an die Magd heranmacht. Statt des Buben kommt aber ein Mädel, und Spott und Lächerlichkeit umschwirren ihn. Gekränkt in seiner Schwabenschlauheit und -eitelkeit, geht er mit der Magd und dem Kind heimlich davon nach Brasilien, um dort noch übler genarrt, geprellt, geduckt zu werden. Als die Magd stirbt, kehrt er kleinlaut und zerknirscht heim zur verlassenen Frau, die ihn ohne Staunen, ohne Vorwurf, mit einem schlichten, lächelnden Gruß empfängt, ihm das Kind abnimmt und in selbstverständlicher Fürsorge sich ihm widmet: eine reife, rüstige, Gottfried Kellersche Frauengestalt, voll Freiheit und Wärme. In "Kreuzungen" zeichnet Strauß die Entwicklung dreier junger Charaktere, de aus dem Zufall erster Anlagen und Verhältnisse sich in tapferen Zwisten lösen, ihre Lebens- und Wesensform selber schaffen und sich im Wirkungskreis der Menschheit einen Platz erobern. Im "Nackten Mann" geht er in die Vergangenheit seiner Heimat zurück, ohne die Bedenken gegen den historischen Roman zu überwinden. In "Freund Hein" und im "Spiegel" aber kommt hinter der herben Gegenständlichkeit seiner Welt die tiefe Musik seiner Seele zum klingenden Ausdruck. In "Freund Hein" zerbricht ein Gymnasiast, der in der Welt seiner musikalischen Berufung lebt, an den unnachsichtigen Forderungen einer wesensfremden Wirklichkeit. Im "Spiegel" tönen wie eine zarte Kammermusik Erinnerungen aus dem Leben der Vorfahren auf, eine Lebensmusik von ebensoviel Seelentiefe als Seelenklarheit.

      Je näher Hermann Hesse (geb. 1877) der Natur verbunden ist, desto weniger findet er sich in der zersetzten Formenwelt der Zivilisation zurecht Er fühlt sich heimisch in der Naivität des italienischen Landvolkes, der Sorgen- und Selbstlosigkeit des Landstreichers Knulp, der wie die Blumen. auf dem Felde Gott unmittelbar nahe ist. Aus der Heimatlosigkeit der Welt flieht "Peter Camenaind" zu Boppi, dem armen Krüppel, der in seinem Fahrstuhl diesseits allen Lebenszwiespalts geblieben, der in Krankheit, Einsamkeit Armut und Mißhandlung nichts als Liebt und Güte gelernt und "sich ohne Scham schwach zu fühlen und in Gottes Hand zu geben". Und da Boppi stirbt, kehrt er von seinen "paar Zickzackflügen im Reich des Geistes und der sogenannten Bildung" in sein Heimatdorf, "den alten Winkel zwischen See und Bergen", zurück. In seiner Lade liegen die Anfänge einer Dichtung: "Ich hatte den Wunsch, in einer größeren Dichtung den heutigen Menschen das großzügige stumme Lebe der Natur nahezubringen und lieb zu machen. Ich wollte sie lehren, auf den Herzschlag der Erde zu hören, am Leben des Ganzen teilzunehmen und im Drang ihrer kleinen Geschicke nicht zu vergessen, daß wir nicht Götter und von uns selbst geschaffen, sondern Kinder und Teile der Erde und des kosmischen Ganzen sind."

      So spielen die ersten Bücher Hesses weniger zwischen Mensch und Mensch als zwischen Mensch und Natur. Stimmung, Sehnsucht, Traum und Allgefühl, Wehmut und Einsamkeit sind ihr Gehalt. Die weichen Umrißlinien der Gestalten verschwimmen. Aber über "Gertrud" und "Roßhalde" wächst Hesse zum "Demian", der "die Geschichte seiner Jugend" zum Symbol des gegenwärtigen, suchenden und ringenden Menschenlebens gestaltet. "Die Wertlosigkeit der heutigen Ideale" die Unwahrheit der heutigen Gemeinschaften, der Menschen, die alle "fühlen, daß ihre Lebensgesetze nicht mehr stimmen, daß sie nach alten Tafeln leben", wird nicht in breitem, epischem Fresko, aber in der sehnsüchtigen Entwicklung eines Einzelnen dargestellt. "Diese Welt, wie sie jetzt ist, will sterben, sie will zugrunde gehen und sie wird es." Aber aus ihrem Untergang, aus dem Getümmel und Grausen des Weltkrieges keimt eine neue Gemeinsamkeit. "In der Tiefe war etwas im Werden. Etwas wie eine neue Menschlichkeit. Denn viele konnte ich sehen, und mancher von ihnen starb an meiner Seite — denen war gefühlhaft die Einsicht geworden, daß Haß und Wut, Totschlagen und Vernichten nicht an die Objekte geknüpft waren. Nein, die Objekte, ebenso wie die Ziele waren ganz zufällig. Die Urgefühle, auch die wildesten, galten nicht dem Feinde, ihr blutiges Werk war nur Ausstrahlung des Innern, der in sich zerspaltenen Seele, welche rasen und töten, vernichten und sterben wollte, um neu geboren werden zu können."

       Inhaltsverzeichnis

      Das Wort Drama bedeutet Handlung, insonderheit Kulthandlung. Denn das Drama entwickelte sich im alten Griechenland wie in den christlichen Staaten Europas aus den Tiefen der religiösen Weltanschauung und des Gottesdienstes. Sein letzter Grund ist die leid- und geheimnisvolle Zweiheit, in die alles Leben zerspalten ist, in der es fremd, kämpfend und doch sehnsüchtig sich gegenübersteht: der Gegensatz von Gott und Welt, Geist und Natur, Idee und Sinnlichkeit, All und Ich. Nur ein Gott, der vom Himmel herniedersteigt, der die Qual und Zerrissenheit des Endlichen selber auf sich nimmt, Dionysos, Christus, vermag in seinem Gottmenschentum diese Gegensätze zu einen und zu lösen. Sein Leiden