Sandra kaut an den Nägeln.
»Ich will«, nuschelt sie, »dass sich alles von selbst ergibt. Und zwar so, wie es meinem Unterbewusstsein richtig erscheint. Ich merke nichts von dieser Fügung, weil mir nicht bewusst ist, dass ich wollte, was ich bekomme. Also muss ich meine Wünsche auch nicht rechtfertigen, vor allem nicht vor mir selbst. Wofür ich dann überhaupt noch denken muss, weiß ich nicht. Für verzauberte orientalische Rätselspiele vielleicht.«
Der Einzige, der diese Gedankengänge wirklich verstand, war der Mann, den sie liebte. Nur liebte der sie genau deshalb nicht zurück.
»Die doofen Gedanken hab ich selber. Ich will eine Frau, die solche Gedanken verschwinden lässt. Und wenn ich sie treffe, werde ich das daran merken, dass sich die Frage nach Wollen oder Nichtwollen überhaupt nicht mehr stellt. Zack, und richtig ist es. Das kann man bei uns beiden nun wirklich nicht behaupten.«
»Willst du noch einen Shut Down?«, fragte Sven und warf sich eine Handvoll Körner in den Mund.
Sandra schüttelte den Kopf. »Ich will eine Frau sein.«
Sven nickte. »Das wäre toll. Dann könnten wir mehr machen, als uns hier sinnlos zu betrinken.«
Sven war kein Muttersohn. Sven würde alles Mögliche möglich machen, wenn sie ihn ließe.
Sie wechselten von der Cocktail-in die Karaokebar, trauten sich dann aber nicht, einen Song anzumelden.
»Schreib D14«, rief Sandra und trippelte ungeduldig mit den Füßen in einer Bierpfütze.
»Unmöglich, viel zu tief«, sagte Sven. »Wir singen ›When You Believe‹. Ich bin Mariah Carey, du machst Whitney Houston.«
»Niemals.« Sandra wurde blass. »Niemals.«
Sie blätterten ziellos im Liederordner. Die Kellnerin verteilte Apfelkorn zum Warmwerden.
»Wenn doch nur –«, sagte Sandra und sah sehnsüchtig auf das kleine Podest neben dem DJ-Pult.
»Genau«, sagte Sven, »aber was soll man tun.«
Claudia war überzeugt, dass man Frieden schließen musste mit den Vorfahren.
»Nur wenn du ihnen verzeihst, kannst du dich von ihrem Diktat befreien.«
»Kann ich dann auch Muttertochter werden und endlich wieder Sex haben?«
»Nein. Aber du kannst dann zur Abwechslung mal an was anderes denken.«
Beim Duschen überlegte Sandra, dass sie aufhören sollte zu duschen. Die ewige Körperpflege trug entscheidend dazu bei, dass sie sich ungeliebt und unbeachtet vorkam. Jeden Morgen richtete sie etwas her, das den Tag über keinen Abnehmer fand und abends unbenutzt ins Bett zurückgelegt werden musste. Sie sollte vielleicht lieber aufhören, sich hinterrücks bereitzuhalten und damit ständig selbst zu demütigen. Wenn sie ungewaschen, ungezupft, klebrig und stinkend umherging, könnte sie im Gegenteil froh sein, dass ihr niemand zu nahe kam.
»Wer weiß«, flüstert das Schicksal. »Wenn ich mich nicht täusche, ist er auf dem besten Weg, ein bisschen abzuweichen von seinen Grundsätzen. Ich glaube, er kommt heute mal vorbei.«
Und schon steht Sandra wieder unter der Dusche.
Vier Wochen lang war sie jede Nacht bei ihm gewesen. Durchaus mit Einladung und bestimmt nicht aus Versehen. Dann hatte sie gesagt, dass sie ihn liebte.
»Das willst du wohl«, hatte er geantwortet.
Er hatte nicht gewollt.
»Tut mir leid«, hatte er gesagt. Mehrmals. Dann war er wütend geworden: »Ich will nicht, verstehst du? Nein, nein, nein. Einfach: Nein.«
»Aber wenn das so ist«, hatte Sandra gefragt, »warum dann die vier Wochen?«
Er hatte die Schultern gezuckt. Und vorgeschlagen, im Jetzt zu leben.
»Muttersohn«, meinte Claudia, als Sandra ihr davon erzählte. »Ist es gewohnt, Frauen glücklich zu machen. Wahrscheinlich war’s wirklich unfreiwillig.«
»Lass ab«, sagte Sven und zählte Sandra all die schönen Dinge auf, die sie bisher erreicht und erlebt hatte. Ohne Frage eine ganze Menge.
»Greif zu«, sagte Claudia und erinnerte Sandra an all die Menschen, die unterwegs waren und darauf warteten, dass andere den ersten Schritt taten.
Der Mann, den Sandra lieben wollte, war allerdings nicht dabei.
»Verdammt nochmal«, schimpfte Sven. »Wie kann man nur so verstockt sein.«
Claudia schnaubte.
Sie fuhren zu dritt zum Baden.
»Zwei schöne Frauen«, sagte Sven, als sie zum Trocknen auf der Decke lagen. »Ich begreif das einfach nicht.«
Sandra und Claudia begriffen es auch nicht. Sie aßen Kekse, deren Schokoladenseite in der Schachtel kleben blieb, und sahen fremden Kleinkindern beim Matschbuddeln zu.
»Würdest du dir zum Stillen die Brustimplantate entfernen lassen, wenn du welche hättest?«, fragte Sandra, und Claudia überlegte. Sven sah mit glasigen Augen über die Kinder hinweg auf den See.
»Ich denke nein«, sagte Claudia. »Wenn ich Brustimplantate hätte, würde ich das Kind per Kaiserschnitt holen lassen und mit Sojamilch aufziehen.«
»Reiswaffeln«, sagte Sandra. »In Sojamilch aufgelöste Reiswaffeln.«
Sie schwammen hin und her. Es war ein herrlicher Nachmittag.
Als Sandra nach Hause kam, blinkte die rote Lampe vom Anrufbeantworter. Sven oder Claudia konnten es nicht sein, mit denen war sie eben noch am See gewesen.
Die Nacht war lau, der Teer weich, das Wasser glitzrig und das Gras frisch gemäht. Der Mann, den Sandra aus unbestimmtem Grund sehr, sehr liebte, war ein bisschen von seinen Grundsätzen abgewichen, hatte die Hände unter ihrer Bluse und die Augen geschlossen. »Mein Sommermädchen«, flüsterte er.
In Situationen großer Bedrängnis sagte Sandra sich Sprichwörter ihrer schwäbischen Großmutter vor. »Am Schluss wird zsammazählt«, kam ihr in den Sinn, und das hier war nicht der Schluss. Sie versuchte den Mann zu küssen, aber er wich geschickt aus. Ob diese Nacht einen Pluspunkt oder einen Punktabzug bedeutete in der endgültigen Rechnung, ließ sich so auch nicht herausfinden.
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