»Rohseidenkäppchen.« Renate lacht und hustet.
Sie raucht nicht nur am meisten, sie riecht auch nach Zigaretten, aber nach einem langen Abend am Feuer fällt das nicht mehr auf. Es hat Christian nicht gestört letzte Nacht im Baumarktschlafzimmer.
»Wie alt ist Lukas jetzt?«, fragt sie.
»Einundzwanzig.«
»Und sieht man noch was?«
Bestimmt. Christian hat seinen Neffen lange nicht mehr nackt gesehen, aber als Kind hatte er überall diese wirbelige weiche Brandnarbenhaut. Mit dunkler Männerbehaarung muss sie merkwürdig aussehen. Oder wächst auf dieser Haut kein Haar mehr?
»Ich weiß nicht«, sagt er.
Die andern vier ziehen ihre Stühle zum Feuer. Hans schlüpft aus seinen Schuhen, Wolfgang macht die nächste Flasche Wein auf und wirft den Korken ins Feuer.
»Die sind doch aus Plastik«, Katrin stößt ihn an.
»Ehrlich?« Wolfgang mustert das Etikett. »Ist mir gar nicht aufgefallen.«
»Wegen der Korkkrise«, sagt Katrin.
Christian stochert mit dem Schürhaken, aber der falsche Korken schmilzt schon.
»Alles geht vorbei«, sagt Renate. »Auch die Zeit, als ein Korken noch ein Korken war.«
»Bald erinnern wir uns gar nicht mehr, wie ein echter Korken ausgesehen hat«, sagt Katrin. »Beim Wolfgang ist es schon so weit.«
»Noch ein Vorteil, keine Kinder zu haben«, sagt Renate.
»Wieso?«
»Man kann guten Gewissens alles wegschmeißen und vergessen.« Renate gähnt. »Muss man schließlich keinem mehr zeigen.«
Christian sieht zu Gunda rüber, die versucht, sich mit einem glimmenden Stöckchen die Zigarette anzuzünden. Wahrscheinlich stimmt das. Wahrscheinlich hätte er zu Hause eine Schublade mit Korken und europäischen Münzen und gelochten Pappfahrscheinen. Wahrscheinlich hätte Gunda nach der ersten Operation aufgehört zu rauchen.
»Will außer mir noch jemand was Süßes?«, fragt Renate und steht auf.
»Hier!«, sagt Hans.
Renate holt zwei Becher Pudding aus dem Kühlschrank.
»Schön oder schnell?«, fragt sie.
»Schön«, sagt Hans.
Renate seufzt und stürzt den Pudding auf zwei Untertassen. Die Karamellsoße tropft, als sie sich neben Christian zurück auf die Bank zwängt.
»Wie kannst du nur«, sagt Wolfgang, »Pudding zum Rotwein.«
Renate lacht. »Weißt du doch, Schatz. Ich kann alles.«
Das stimmt. Sie schläft sogar auf dem Bauch.
»Muss ich«, hat sie letzte Nacht gesagt, »sonst schnarche ich, und du kriegst kein Auge zu.«
Schön hat sie ausgesehen. Wie ein Kind mit den Fäusten neben dem Kopf und der Nase im Kissen. Wie das Gegenteil von über der Decke gefalteten Händen.
Zur Konfirmation hatte Christian seinem Patenkind Lukas einen Motorradausflug durch Ostwestfalen geschenkt. Lukas war abwechselnd bei ihm und Gunda mitgefahren, und nachts hatten sie in Landgasthöfen geschlafen, Lukas auf der Extraliege im Doppelzimmer. Sie hatten sich bemüht, so zu tun, als wären sie eine Clique, hatten am Abend gewürfelt und Karten gespielt und tagsüber bei jeder Caféterrasse angehalten, um Spezi zu trinken. Aber im Endeffekt waren sie doch eine Kleinfamilie gewesen, Lukas zu groß und zu schweigsam, er und Gunda betont jugendlich in ihren Lederhosen, eine Kleinfamilie, über die die anderen Gäste im Landgasthof wahrscheinlich die Köpfe schüttelten. Eine Kleinfamilie, die Christian selbst peinlich war.
»Psst«, macht Katrin und legt den Kopf schief.
»Was denn«, fragt Wolfgang, »kommt Besuch?«
»Das Wildschwein bittet um Herberge«, sagt Hans.
»Psst!« Katrin fuchtelt in seine Richtung. »Die Maus ist wieder da. Ich hab’s gehört.«
Sie sitzen bewegungslos und lauschen. Im Feuer knallt etwas, und Gunda fängt an zu kichern.
»Psst!« Katrin runzelt die Stirn.
»Was willst du denn mit der Maus?«, fragt Hans.
»Anschauen.« Katrin steht auf und geht vorsichtig Richtung Mülleimer.
»Da ist sie!«, flüstert sie aufgeregt. »Guckt mal, süß!«
Wolfgang verdreht die Augen. »Nicht zu fassen, wie verstädtert du bist. Drauftreten musst du, so hat mein Opa das gemacht. Gatsch mit dem Absatz, und gut war.«
»Niemals«, sagt Katrin, »guck doch.«
»Dann lasst uns jetzt über die Nachteile sprechen, keine Kinder zu haben«, sagt Renate mit theatralischer Geste. »Gefühlsübertragung auf Schädlinge.«
»Das ist kein Spaß«, sagt Hans. »Die nagt die Mülltüte auf, und morgen früh fällt uns alles entgegen.«
Wo sie sowieso zu faul sind, den Müll wegzubringen. Drei zugebundene Tüten stehen neben der Spüle, und in der Scheune die leeren Flaschen. Der letzte Tag wird vollständig fürs Putzen draufgehen. Putzen und Holzhacken, damit nicht so auffällt, wie viel sie verfeuert haben.
»Okay, ich scheuch sie weg«, sagt Katrin, »aber tot mach ich sie nicht.«
Sie tritt mit dem Fuß gegen den Mülleimer. Katrin ist die einzige, die Hausschuhe mitgebracht hat, echte Hüttenschuhe, denkt Christian, mit gestricktem Fuß und aufgenähter Sohle. Er mag die Sorgfalt dieses Details, falls Katrin es bedacht hat. Er mag jetzt auch Katrin wieder. Alle, wie sie hier sitzen.
Am fünfzigsten Geburtstag seines Bruders waren Gunda und er die einzigen, die geraucht haben. An die vierzig Gäste, alle nikotinfrei, und nur einer pro Pärchen, der sich nachschenken ließ. Die ersten gingen um halb zwölf, und gegen eins waren nur noch er, Gunda und die erwachsenen Neffen mit ihren Freundinnen da. Also doch eine Clique. Gunda war betrunken, aber die einzige, die es schaffte, mit der schwarzgekleideten Freundin von Lukas ins Gespräch zu kommen. Diese letzte Stunde war die schönste der Party gewesen. Sein Bruder hatte den Plattenspieler freigeräumt, der seit Jahren unter Stapeln von CDs begraben lag, und Mother’s Finest aufgelegt.
Sie schweigen. Je länger sie abends ums Feuer sitzen, desto stiller wird es. Aber das stört nicht, es gibt ja das Feuer, das knistert und ab und zu knallt, die Kippen, die regelmäßig hineingeworfen werden, das Scharren, wenn jemand sein Glas vom Boden aufnimmt.
Gundas Augen glänzen.
Jetzt, wo sie wieder so hübsch aussieht, fällt Christian ein, dass sie vielleicht nicht aus Eifersucht das Zimmer-Auswürfeln ablehnt, sondern dass es wahrscheinlich noch schwerer fällt, einen eindeutig versehrten Körper zu einem fremden ins Bett zu legen, als einen, der nur altert. Er überlegt, wieso ihm das bisher nicht eingefallen ist. Es muss an der Dreistigkeit liegen, mit der Gunda ihm selbst ihren Körper zumutet. Ihm gegenüber ist sie nie schüchtern gewesen, auch nicht nach den Operationen, im Gegenteil, ihm kam es so vor, dass sie nicht mal die Idee zuließ, ihn könnte der Anblick vielleicht ekeln, zumindest aber erschrecken.
Sofort ist er wieder da, der Ärger über die Zumutung. Christian öffnet den Mund und versucht, möglichst flach zu atmen. Sie ist nicht schuld, denkt er, aber das hat noch nie geholfen.
»Na, trübe Gedanken?«, fragt Wolfgang, und Christian nickt und lässt sich nachschenken.
»Evolutionstechnisch sind trübe Gedanken äußerst sinnvoll«, sagt Wolfgang.
Christian lächelt. Jetzt kommt bestimmt wieder ein Merkspruch, der ihn von heute an ab und zu trösten wird. Entgegen der landläufigen Meinung ist es ein Segen, Psychologen im Freundeskreis zu haben.
»Die Erinnerung an unsere Fehler