Schlüssel der Zeit - Band 5: Antoniusfeuer. Tanja Bruske. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Tanja Bruske
Издательство: Bookwire
Серия: Schlüssel der Zeit
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783947612949
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Aufgabe des Ordens war die Pflege und Behandlung von Kranken, die am „Antoniusfeuer“ litten, einer im Mittelalter in Europa weit verbreiteten Krankheit.

       Das Stammkloster des Ordens befindet sich in Saint Antoine l’Abbaye, wo der französische Adlige Gaston den Orden als Dank für die Heilung seines Sohnes vom Antoniusfeuer mit Hilfe der dort befindlichen wundertätigen Reliquien des Heiligen Antonius gestiftet haben soll. Das erste Antoniterkloster auf deutschem Boden wurde um 1190 in Roßdorf gegründet; die Generalpräzeptorei wurde 1441 nach Höchst am Main verlegt …

      Keyra strich hastig dreimal mit der flachen Hand über die Seite und griff nach dem Kohlestift. „Leo, Stopp!“, schrieb Keyra in das Buch, ein gutes Stück unter die letzten Zeilen. Die Schrift verharrte. Es funktioniert, dachte Keyra begeistert.

      „Kannst du mir erst einmal sagen, in welchem Jahr ich mich überhaupt befinde?“, kritzelte sie und hoffte, dass Leo ihre Schrift lesen konnte; mit Kohle schrieb es sich nicht eben elegant.

      6. September 1502, kam die prompte Antwort. Dann, nach kurzem Zögern: Geht es dir gut?

      „Ich war bewusstlos, als sie mich fanden, fühle mich aber fit. Irgendeine Alibi-Geschichte?“

       In deiner Tasche müsste ein Brief sein, der dir weiterhilft. Du musst ihm dem Procurator geben, aber du darfst das Siegel vorher nicht brechen!

      „Okay – sonst noch was für den Moment?“ Da fiel ihr selbst etwas ein. „Halt! Wenn das Kloster 1441 verlegt wurde und ich mich im Jahr 1502 befinde – warum bin ich dann im Kloster?“

      Roßdorf war den Antonitern weiter wichtig, auch wenn viele Brüder abgezogen und die Reliquien und Altäre verlegt wurden. Es ist 1502 noch ein wichtiger Standort.

      „Na schön. Gut zu wissen“, sagte Keyra laut, nachdem Leo keine weiteren Anstalten machte, sich zu äußern. Sie schwang die Beine über die Bettkante, stand auf und zog sich um. Das Kleid war ein sackähnliches Gebilde aus grobem, hellem Stoff. Kann ich nicht auch mal die Kleider einer Adligen bekommen?

      Nachdem sie sich angekleidet hatte, griff sie in die Tasche und zog den Brief hervor. Er war tatsächlich versiegelt. Das Siegel war etwa so groß wie der Boden einer Kaffeetasse: ein rotes Oval mit einem schwarzen Rahmen und einem blauen T mit Serifen. Sie steckte Brief und Wächterbuch sorgsam zurück in die Tasche.

      „Schön. Dann werde ich mich mal umsehen.“

      Sie hängte sich die Tasche um und öffnete vorsichtig die Tür. Niemand war auf dem kleinen Gang zu sehen. Leise schlich sie hinaus und in den Gang hinein. Es herrschte Stille. Vielleicht waren in diesem Gebäude Kranke untergebracht, die schliefen. Keyra öffnete eine Tür am Ende des Ganges und blinzelte in helles Sonnenlicht. Vor ihr erstreckte sich das Gelände des Klosters. Sie hatte erwartet, etwas Ähnliches wie in der Rüdigheimer Kommende vorzufinden, aber dieses Kloster hatte eher etwas von einem Gutshof an sich: Ihr gegenüber erhob sich ein zweistöckiges Gebäude, zur Rechten erstreckte sich ein kleiner Kräutergarten. Links von dem Gebäude, aus dem sie getreten war, schloss sich ein weiterer, flacher Bau an; dahinter erhob sich eine Kirche von respektabler Größe. Dahinter schien es weiter zu gehen. Das ganze Gelände war von einer Mauer umgeben. Auf dem Hof liefen gackernde Hühner herum, und dazwischen tummelten sich Schweine, die kleine silberne Glöckchen um den Hals trugen.

      Keyra hatte sich noch nicht an den unerwarteten Anblick gewöhnt, als sich eine Hand auf ihre Schulter legte. Sie drehte sich um und sah sich einem dicken Mönch gegenüber. Er wirkte keineswegs so freundlich wie Severin: Sein Gesicht, das von einer breiten Knollennase dominiert wurde, war knallrot und die buschigen Augenbrauen zornig zusammengezogen: „Na? Haben wir hier etwa eine Diebin?“

      4. Der Procurator

      Keyra war im ersten Moment zu perplex, um zu antworten. Der Mann reagierte darauf, indem er sie grob durchschüttelte. „Antworte, Dirne! Ist das der Dank für die Großherzigkeit der Antoniter, dass du hier herumschleichst, um etwas zu stehlen?“

      „Ich wollte nichts stehlen“, protestierte Keyra. „Ich wusste nicht, dass es verboten ist, sich umzusehen.“

      „Es ist verboten, alleine herumzuschleichen. Und deswegen kommst du jetzt mit zum Procurator, um dich zu verantworten.“ Die Finger des Mönchs schlossen sich wie eine Eisenklammer um Keyras Arm, und er zog sie hinter sich her. Sie überquerten den Hof vor ihnen. Das große Gebäude gegenüber hatte die Form eines Ls, und der Mönch strebte auf den kürzeren Flügel links von ihnen zu. Keyra protestierte gegen die grobe Behandlung, doch der Mönch beachtete sie überhaupt nicht. Er schritt energisch aus, sodass die Hühner empört gackernd auseinanderstoben. Keyra hatte kaum Zeit, sich zu orientieren. Ehe sie es richtig einordnen konnte, hatte der Mönch, dessen Kopf ein grauer Haarkranz zierte, eine Tür geöffnet, sie durch einen dunklen Flur und eine Treppe hinauf geschleift. Er klopfte an eine dunkelbraune Holztür und wartete nicht, bis eine Reaktion von innen kam. Schwungvoll drückte er eine Klinke hinunter und stieß Keyra vor sich her in den Raum.

      „Procurator, ich habe eine Diebin ertappt, die auf dem Klostergelände herumgeschlichen ist.“

      Hinter einem großen Schreibtisch saß ein alter Mann, ebenfalls ein Mönch, aber bestimmt doppelt so alt wie der Dicke, der Keyra hergezerrt hatte. Er hatte wache blaue Augen und weiße Haare. „Theobald, was hat das zu bedeuten?“, fragte er erstaunt.

      „Ich bin nicht herumgeschlichen“, sagte Keyra empört. Sie befreite sich aus dem Griff des Mönchs. „Ich habe mich besser gefühlt und habe mein Krankenzimmer verlassen, weil ich mich umsehen wollte. Ich konnte nicht ahnen, dass man dafür als Diebin an den Pranger gestellt wird.“

      „Du bist eine Kranke aus dem Hospiz?“ Der Procurator musterte sie von oben bis unten.

      „Wieder eine Lüge – ich kenne die Siechen, und dieses Weib gehört nicht dazu. Sie ist überhaupt nicht aus dem Dorf.“ Theobald machte einen Schritt nach vorne, um Keyra erneut zu packen.

      Keyra wich zurück, sodass sie mit dem unteren Rücken gegen den Schreibtisch stieß. „Ich bin keine Kranke. Ich hatte einen Unfall, Martha hat mich hierher gebracht.“

      „Diese Hexe!“, Theobald verzog angewidert das Gesicht. „Du bist also mit ihr im Bunde.“

      „Theobald!“ Der Tonfall des Procurators ließ das Gesicht des Mönchs zu Eis erstarren. „Ich weiß, wie du von Martha denkst, aber halte dich mit solchen Anschuldigungen zurück. Zudem reden wir momentan nicht von der Hebamme.“ Er wandte sich wieder Keyra zu. „Wie ist dein Name? Und was verschlägt dich nach Roßdorf?“

      Der Brief! Wenn ich ihn jetzt nicht übergebe, wann dann? Keyra griff in ihre Umhängetasche und zog den Brief hervor. „Das hier wird einiges aufklären“, behauptete sie und hoffte inständig, dass es auch so war.

      Der Procurator nahm den Brief mit fragend hochgezogenen Augenbrauen entgegen. Als er das Siegel sah, stockte er. Er drehte den Brief um und zeigte Theobald das rote Oval. Theobald schnappte nach Luft. „Das Siegel des Präzeptors!“

      „In der Tat. Unser Gast ist wohl tatsächlich keine Diebin.“ Der Procurator nahm einen großen, mit einem blauen Edelstein besetzten Dolch vom Schreibtisch und brach damit das Siegel, entfaltete den Brief. Seine Augen huschten über die Zeilen, die, soweit Keyra erkennen konnte, mit schwarzer Tinte in gestochen sauberer Handschrift verfasst waren. Mit einem verblüfften Gesichtsausdruck ließ er das Schriftstück sinken. „Theobald, du wirst dich bei unserem Gast entschuldigen müssen. Das ist Kathrina Brücher, ein Mündel des Präzeptors. Sie sollte wohl eigentlich mit dem Wagen ankommen, der heute Morgen eingetroffen ist.“

      Theobald klappte der Mund auf. „Ein … Mündel des …“

      „Des Präzeptors, jawohl. Sie ist eine Waise aus Frankfurt, die am Kloster in Höchst aufgezogen wurde.“ Der Procurator sah sie mitleidig an. „Es tut mir sehr leid, dass Ihr Eure Eltern an das Antoniusfeuer verloren habt. Doch andere Waisen treffen es schlechter, wenn ihre Eltern