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Summer
Ich kann es nicht glauben, ich komme zu spät zu meiner allerersten Vorlesung. Mit einem leisen Fluch raffe ich meinen Kram zusammen, stopfe alles in meinen Rucksack und stürme aus dem Zimmer. Auf dem Stockwerk im Wohnheim herrscht gespenstische Stille, alle scheinen ausgeflogen zu sein. Nur ich bin noch hier. Mist.
Ich renne so schnell ich kann die Treppen hinunter und bleibe abrupt stehen, nachdem ich das Gebäude verlassen habe. Wohin? Ich bin erst seit ein paar Tagen auf dem Campus, und mein Orientierungssinn ist in etwa so gut wie der einer ungeschälten Orange. Ich muss kichern. Ich glaube, ich drehe allmählich durch. Mein Blick schweift hektisch umher. Hier ist es alles andere als leer, überall sind Leute unterwegs. Ich könnte jemanden fragen, wo ich hinmuss, aber das bringe ich nicht über mich. Gott, mit mir stimmt wirklich gar nichts mehr. Missmutig wende ich mich um und trabe los. Ich bin mir sicher, hier entlang zu müssen. Okay, ich bin mir nicht sicher, aber irgendwo muss ich ja hin. Um mich herum schwirrt es wie in einem Bienenstock. Ich sehe mich um. Es ist schön hier. Das College ist von einem weitläufigen, parkähnlichen Gelände umgeben. Viel Grün, viele alte Bäume. Genau so, wie ich es mir vorgestellt habe. Es war mein Traum, hier zu studieren. Das College liegt am Rande der Stadt Louisville in Kentucky und hat einen hervorragenden Ruf. Das, was ich bisher von Louisville gesehen habe, gefällt mir ebenfalls sehr gut. Viele schöne alte Häuser, eine wunderbare Lage am Ohio River. Am besten allerdings gefällt mir, dass es weit weg von daheim ist. Wobei, ich habe kein Zuhause mehr. Ich schlucke und schüttele den Kopf. Heute nicht. Heute ist mein erster richtiger Tag in meinem neuen Leben. Und diesen Tag werde ich nicht kaputtmachen.
Ich eile über den Campus und schiele dabei auf das Display meines Smartphones. Wenn ich sehr viel Glück habe, dann schaffe ich es noch rechtzeitig. Das Handy klingelt. Es ist Jake.
„Hey“, melde ich mich abgehetzt.
„Hey. Wollte kurz hören, ob alles klar ist bei dir?“
Die Stimme meines besten Freundes beruhigt mich ein wenig.
„Geht so, ich hab verschlafen und jetzt verirre ich mich auf dem Weg zur Vorlesung.“
Ich klinge leicht verzweifelt, und er lacht.
„Du hast verschlafen? Du? Ich glaub´s nicht. Na, dann nimm die Beine in die Hand, dann schaffst du es noch. Ich muss los. Melde mich später. Mittagessen?“
Damit legt er auf, ohne meine Antwort abzuwarten. Der hat vielleicht die Ruhe weg. Klar, er hat ja auch nicht verpennt. Außerdem kennt er sich hier aus, es ist sein zweites Jahr.
„Danke, dir auch einen schönen Tag“, knurre ich. Wenn Jake ein bisschen früher hier aufgeschlagen wäre, hätte er mir alles zeigen können. Aber nein, Mr. Bloomfield ist erst gestern eingetroffen und hatte noch keine Zeit, meiner Wenigkeit den Campus zu zeigen.
Tatsächlich ist das Glück auf meiner Seite, und