Als sie seine weichen, dichten Haare schnitt, ertappte sich Elina dabei, wie sie seit Langem wieder einmal ihr eigenes Gesicht im Spiegel betrachtete. Grundsätzlich entsprach sie dem gängigen Schönheitsideal mit ihren glatten hellbraunen Haaren, den großen grünen Augen, den gleichmäßigen Lippen und den symmetrischen Gesichtszügen. Trotzdem fehlte ihr das gewisse Etwas, das, was interessant auf andere wirkte. Aber warum machte sie sich gerade jetzt darüber Gedanken? Und warum warf sie dieser Mann so sehr aus der Bahn? Sie kannte diesen Laurenz doch gar nicht!
Er erzählte ihr, er wäre hergekommen, um für einen guten Freund eine Immobilie zu erwerben. Er würde ein paar Tage hierbleiben und in einem schmucken Hotel schräg gegenüber übernachten. Elina nickte, ohne ihn im Spiegel aus den Augen zu lassen.
Er fragte sie, wo sie wohne und ob er sie als kleines Dankeschön für den Haarschnitt am Abend zum Essen ausführen dürfte. Elina sagte, zu ihrem eigenen Erstaunen, zu und beschrieb ihm den Weg zu dem Häuschen ihrer Schwester, wo sie momentan lebte.
Warum um alles in der Welt war sie nur so unvorsichtig und vertraute diesem Fremden blind? War die Begegnung mit dem Engel schuld an dem Übermut, der sie auf einmal beherrschte? Oder die Sehnsucht nach Gesellschaft und nach einem Menschen, mit dem sie über das, was sie bewegte, reden konnte? Elina wusste es nicht, aber sie hoffte, dies nicht zu bereuen.
Laurenz beobachtete sie genau im Spiegel, wie sie gedankenverloren seine Haare stylte. „Alles in Ordnung? Ich bin kein Triebtäter, ich möchte mich nur dankbar für Ihre Hilfsbereitschaft zeigen.“
Hatte sie ihre lautlos geformten Worte doch ausgesprochen oder konnte er Gedanken lesen? Schnell antwortete sie: „Ich bin normalerweise nicht so gut im Umgang mit Menschen, aber ich freue mich auf einen gemeinsamen Abend mit Ihnen.“
Laurenz schien zufrieden und schenkte ihr ein weiteres Lächeln. Elinas Knie wurden weich, ihr Herz begann schneller zu klopfen.
Nachdem sich der Mann zufrieden im Spiegel betrachtet hatte, bezahlte er, wobei er Elina mit einem großzügigen Trinkgeld bedachte, und ging mit freundlichen Worten des Dankes zur Tür hinaus. Anmutig und geschmeidig schritt er die Straße entlang, immer weiter fort von ihr.
Abermals wurde Elina mit einem nagenden Gefühl der Leere im Herzen zurückgelassen, auch wenn diese Empfindung eine ganz andere war als die am Abend zuvor. Die Achterbahnfahrt der Gefühle schien weiterzugehen.
Zu Hause angekommen drehte sich alles um das Essen mit Laurenz Winter. Was sollte sie anziehen, welche Frisur, welche Schuhe und was war mit Make-up? Sollte sie es wagen, sexy zu wirken? Nein, das war zu riskant, schließlich wollte er sich nur erkenntlich zeigen für den Haarschnitt. Also doch lieber elegant, aber nicht zu aufdringlich.
Elina wirbelte durch das Haus wie ein verrücktes Huhn. Duschte, zog sich an, machte ihre Haare und schminkte sich. Als sie eine Halskette auswählen wollte, fiel ihr ein, dass Ruth vielleicht eine Antwort auf die letzte E-Mail geschickt haben könnte, in der sie sich für das Bezahlen der Reparaturen am Haus bedankte. So viel Zeit musste sein, sie schaltete den Computer ein und checkte ihren Posteingang.
Geliebte Schwester!
Alles geregelt, du solltest das Geld bald erhalten.
Die Arbeit als Journalistin nimmt mich immer mehr ein, ich muss so viel dazulernen, da sich das Zeitungswesen hier in einigen Punkten deutlich von dem britischen unterscheidet. Aber es macht mir Spaß und es tut gut, Neues auszuprobieren. Mein Chef ist zufrieden mit meinen Fortschritten. Auch mit den Arbeitskollegen verstehe ich mich gut, hier herrscht ein angenehmes Arbeitsklima. Es war die richtige Entscheidung hierherzukommen.
Leider muss ich schon wieder zu einem Meeting aufbrechen, vierundzwanzig Stunden am Tag sind mir gerade etwas zu wenig, vor allem Schlaf könnte ich dringend gebrauchen.
Es tut gut, deine Zeilen zu lesen.
Gott segne dich!
Deine Ruth
Ach, Ruth und ihr tiefer Glaube an Gott. Elina wusste, dass sie sich dieses Vertrauen in Jesus auch für ihre kleine Schwester wünschte. Sie verstand nicht, warum sie den Glauben, den ihre Eltern ihnen ins Herz gelegt hatten, ablehnte. Doch für Elina war die Erinnerung zu schmerzhaft, es war so schon schwer genug, die Vergangenheit zu ertragen. Kurz überlegte sie, was sie zurückschreiben sollte, entschied sich aber, die Antwort auf später zu verschieben, vielleicht ereignete sich heute noch Erzählenswertes, wenn sie mit Laurenz ausging.
Außerdem würde es Ruth nicht gutheißen, wenn sie sich mit einem fremden Mann traf. Nein, sie war momentan mit Arbeit eingedeckt, sie sollte nicht den Eindruck haben, Elina hätte ihr Leben nicht im Griff. Sie musste vorsichtig sein. Es war besser, ihr erst im Nachhinein davon zu erzählen, wenn der Abend nett verlaufen war.
Elinas Wanduhr ließ sie abermals in Hektik geraten, sie musste noch ihre Handtasche packen und die Schuhe auswählen, was bei dem geringen Angebot nicht allzu schwierig sein würde. Vielleicht fand sie auch noch passenden Schmuck, ehe Laurenz vor ihrer Türe stand.
*
Kapitel 3
Elina feilte gerade am letzten Schliff ihres Outfits – eine rote Korallenkette zum kurzen, aber eleganten schwarzen Kleid –, als es an der Tür klingelte. Ein erneuter Blick auf die Uhr verriet ihr, dass Laurenz einer dieser Männer war, die überpünktlich kamen. Letzte Kontrolle im Spiegel, die Frisur war perfekt, das dezente Make-up ließ sie etwas strahlender wirken, im Großen und Ganzen war sie zufrieden mit ihrem Erscheinungsbild. Es konnte losgehen, sie atmete tief durch und bemühte sich, ein freundliches Lächeln aufzusetzen, um ihre Nervosität zu überspielen.
„Einen Moment, bitte“, rief Elina, ehe sie zur Tür eilte, um diese zu öffnen.
Laurenz trug einen blaugrauen, geradlinigen Anzug, kombiniert mit einem weißen Hemd. In der Hand hielt er eine Sonnenblume, die er ihr galant überreichte. „Tut mir leid, dass ich zu früh bin, aber ich wollte nicht im Auto warten, ich ... Sie sehen atemberaubend aus“, ertönte es aus seinem Mund, untermalt von diesem süßen verlegenen Lächeln, das Elina so verzauberte.
Am liebsten hätte sie ihn in ihre Arme gezogen und ihm zur Begrüßung einen Kuss auf die Wange gedrückt, wohl wissend, dass man dies nur bei sehr guten Freunden zu tun pflegte. So streckte sie ihm nur die Hand entgegen. Doch nicht einmal auf diese Berührung war sie gefasst, denn ein unbekanntes Verlangen kroch aus einem längst vergessenen Winkel ihres Herzens hervor. Elina musste sich in diesem Moment eingestehen, dass sie Laurenz Winter begehrenswert fand. Das Blut stieg ihr ins Gesicht, was sie erröten ließ. Sie hoffte, das frisch aufgelegte Make-up ließ nicht zu viel durchblitzen.
Als ob er ihre Unsicherheit spüren konnte, schaute er ihr fast etwas zu tief in die Augen, nahezu unverschämt verführerisch. „Sind Sie so weit, können wir fahren?“
„Ja, natürlich. Entschuldigen Sie, ich war in Gedanken.“
Das Glitzern in seinen Augen machte es nicht besser und Elina schmolz dahin, schwelgte in dem Chaos ihrer neuen Gefühle. Hitze machte sich in ihr breit, die Hände begannen zu schwitzen, ihr Mund fühlte sich trocken an.
Während der Autofahrt in einem silbern lackierten Audi R8, was Elina darauf schließen ließ, dass Laurenz zu den reicheren Menschen dieser Erde gehörte, erzählte er unbekümmert von seinem Termin mit dem Makler am Nachmittag. Das Anwesen, das er erwerben wolle, sei in einem guten Zustand und als Rückzugsort für einen guten Freund gedacht, in dessen Auftrag er nach Sevenoaks gekommen sei. Schon morgen könnte er zur Besichtigung des Hauses antreten, um anschließend die weiteren Formalitäten zu klären, wenn die Immobilie das hielte, was der Makler verspräche. Dann würde sich Laurenz um die Renovierung und die Möblierung kümmern, die Infrastruktur der Umgebung auskundschaften, Einkaufsmöglichkeiten aller Art in Erfahrung bringen und viele andere Kleinigkeiten regeln, um seinem Freund den Start in dieser Gegend möglichst einfach zu gestalten. Betont freundschaftlich bat er Elina, ob