Gesammelte Werke (Über 800 Titel in einem Band). Joachim Ringelnatz. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Joachim Ringelnatz
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788027203697
Скачать книгу
Abends ersäuften wir die Ängste des Tages in Schnaps und Bier in der Seidlerschen Wirtschaft. Da ging das bißchen Geld von daheim im Nu dahin Ich verheimlichte meine Notlage. Ich belog meine Eltern. Das taten die meisten von uns. Mantel, Schuhe, alles hatte ich versetzt. Sogar meinen Ebenholzstock von Onkel Martin. Meine fadenscheinige Wasche wusch und flickte ich selber Ich fror ohne Mantel, und da meine Schuhe entzwei waren, getraute ich mich nicht mehr in die vornehmen Kontors von Reedern und Kaufherren. Die kleinen Heuerbase hörten mich gar nicht mehr an. Mit Schrecken sah ich meine Logisschulden bei Krahl anwachsen. Deswegen gab ich dieses Boardinghouse auf und ging nur noch morgens hin, um nach Post zu fragen. Nachts trieb ich mich dann mit dem Sohn des schlesischen Dienstmannes herum, der auch so heruntergekommen war. Es gab Tage, da wir nicht mehr als eine Semmel zu zweit zu verzehren hatten. Wir schämten uns, Seidlers Großmut noch länger in Anspruch zu nehmen. Wir nächteten in Hauswinkeln oder auf den Bänken in der Wartehalle auf einem Hafenponton. Stetig in der Furcht, von Polizisten überrascht zu werden. Mit diesem Freund teilte ich das Eßbare eines Weihnachtspaketes, das mein Vater viel zu frühzeitig abgesandt hatte. So war von diesen Fressereien und dem beigelegten Bargeld zu Weihnachten nichts mehr übrig. Ich wanderte am Heiligen Abend hungernd und frierend durch die Straßen der reichen Stadtviertel. Mein Gedenken war bei den Eltern. Ich wußte um jede Stunde, was da zu Hause vorging. Jetzt aßen sie den italienischen Salat, jetzt sang Mutter am Flügel das schöne Lied »Ich will dich nicht vergessen, wenn alles dich vergißt«. Ich wußte auch, daß Vater vor der Bescherung durch die Straßen gewandert war, um arme Kinder zu beschenken. Und während ich durch die erleuchteten Fenster der Hamburger Patrizier Lichterbäume sah und Weihnachtslieder vernahm, hegte ich so etwas wie eine leise Hoffnung, daß man mich beobachten könnte und daß plötzlich jemand aus einem dieser Häuser herauseilen und zu mir sagen würde: »Kommen Sie zu uns herein, junger Mann, und essen Sie sich erst einmal ordentlich satt.«

      An die Eltern schrieb ich andern Tags einen völlig verlogenen Brief, worin ich lang und breit schilderte, wie ich mich in der Heiligen Nacht an ihren Gaben delektiert hätte und daß ich ihrer gedenkend mit guten Freunden auf das Wohl unserer Lieben angestoßen hätte.

      Es war eine oft beschworene Vereinbarung zwischen dem Dienstmannssohn und mir: Wer zuerst Chance bekäme, würde den zurückbleibenden Freund mit allen Lebensmitteln versehen, die habhaft wären. Der Schlesier fand zuerst Stellung. Auf einem Dampfer, der an dem Pier lag. Wir waren beide gleich glücklich darüber. Es wurde ausgemacht, daß ich den Dienstmannssohn nach seinem ersten Arbeitstag abends an einem bestimmten Poller am Kai erwarten sollte. Er wollte mir dann mindestens reichlich Brot bringen, womöglich aber noch begehrtere Dinge. Ich wartete dann auf ihn viele Stunden. Bis tief in die Nacht. Er kam nicht. Ich sah ihn auch nie wieder.

      Als meine Not noch hoher gestiegen war, fand auch ich endlich eine Schiffsstellung.

      Auf der »Florida«

       Inhaltsverzeichnis

      Am 30. Dezember 1901 musterte ich in Bremen auf der »Florida« an. Das war ein Frachtdampfer aus Lussinpiccolo, der auf wilde Fahrt ging. Fünfundzwanzig Mann Besatzung, dabei einundzwanzig Nationen vertreten, in der Mehrzahl italienisch sprechende. Ich erhielt eine Monatsheuer von zwanzig Mark. Dies Geld wurde, wie das auf allen Schiffen Brauch war, nach Beendigung der Reise ausbezahlt, aber in den Zwischenhafen gab man auf Wunsch kleinere Vorschüsse.

      Vor allen Dingen aß ich mich nun erst wieder einmal zu Kräften.

      Der Kapitän hieß Nacari. Er hatte eine rauhe Stimme und trug sich malerisch und bunt. Mit mir und einem Amerikaner sprach er englisch. Mit den anderen Leuten italienisch.

      Wir holten in England Kohlen, die wir nach Venedig brachten. Unterwegs hatten wir schlimme See. Ich half erst in der Küche, ehe ich Decksmann wurde. Dann mußte ich für einen erkrankten Trimmer einspringen und in der Hitze des Maschinenraumes vor sechs Feuern Kohlen schaufeln. Stieg ich dann an Deck, so empfing mich eine abscheuliche Kalte.

      Es war auch in Venedig kalt und regnete viel. Aber die Stadt gab mir doch seltsame Eindrucke. Von Bordkameraden geführt, die dort heimisch waren, bekam ich eigentümliche Spelunken und ungewöhnliche Privatverhältnisse zu sehen und erlebte allerlei. Auf den Straßen feierte man Karneval. Nacaris Frau kam mit einem zehnjährigen Tochterchen an Bord. Das wunderhübsche Kind ließ sich immer wieder deutsche Lieder von mir vorsingen.

      Ich sammelte für mich und die Geschwister Münzen, Medaillen, Briefmarken, Zigarettenbildchen und Zündholzschachteln.

      Wir dampften nach Konstantinopel. – Ich lernte bald so viel Italienisch, daß ich mich mit den anderen im Notwendigsten verständigen konnte. Es waren lebhafte, recht naive, aber nicht sehr saubere Burschen. Wenn sie sich mittags Brot in die Suppe brockten, dann taten sie's nicht mit der Hand. Sondern sie bissen die Stücke mit den Zähnen ab und spuckten sie in die Teller. Und wenn jemandem bei Tisch ein Wind entfuhr und niemand das dann gewesen sein wollte, dann ging der angesehenste Matrose von Platz zu Platz und beroch jeden ganz ernsthaft hinten. Sie konnten auch sehr jähzornig werden. Ich hatte leidenschaftliche Schlägereien mit einem Mann aus Kalabrien. Leider waren unehrliche Leute an Bord. Ich wurde bestohlen.

      Von Konstantinopel fuhren wir nach Nikolajew am Schwarzen Meer. Das war eine kalte Fahrt. Große Eisschollen trieben im Meer. – Ich las in der Freizeit Mark Twains Skizzen und die drei Musketiere von Dumas.

      In Nikolajew drang viel deutsche Sprache an mein Ohr. Deutsche Händler und Handwerker kamen an Bord, Schuster und Schneider, viel Juden und ein von uns gierig beglotztes Wäschemädchen. Alle ließen sich von uns Kaffee und Schiffszwieback vorsetzen. Dann erschienen Zollbeamte und ein Arzt. Die durchsuchten und untersuchten uns. Ich fand die wohlgeschriebenen, exakten und herzlichen Briefe von Vater vor, die schon durch ihren grellroten Umschlag hervorstachen, die winzig dünn geschriebenen, besorgten von Mutter, die überzärtlichen von Ottilie und die burschikosen Glückauf-Karten von Wolfgang. Mein Tollerscher Schulfreund Tausig teilte mir mit, daß er nach Westafrika führe.

      Ich zog über Nacht mehrere Hemden an, weil ich sehr fror. Morgens war ich froh, wenn Luca, der Boy, den Kaffee brachte, und war wenig erbaut, wenn uns gleich danach der einäugige Bootsmann zur Arbeit holte. Wir mußten das Eis loshacken, mit dem das Schiff bedeckt war, mußten Schnee fegen, Messing putzen, die Ruderketten reparieren und all das in bitterer Kälte und in einem Gewühl von hundert russischen Schauerleuten.

      Es trieb sich viel Gesindel herum. Obwohl wir gewarnt waren und sofort Posten aufgestellt hatten, stahl man uns gleich nach unserer Ankunft am lichten Tage die Messingeinfassungen einer ganzen Bullaugenfront.

      Korn luden wir. Zwei eiserne Rohre spien es aus großen Speichern in den Schiffsbauch, wo Stauer und Stauerinnen es mit Holzschaufeln verteilten und glattstrichen. Wir Matrosen breiteten Säcke darüber und nähten diese zusammen. Dabei wateten wir in Korn wie in einem Teich. Mittags buono appetito und recht gutes Essen: unzerkleinerte Bratkartoffeln, ich glaube patati arrosti genannt, – Maccaroni – Polenta oder Parmesankäse mit Zimt.

      Wir abeiteten wieder bis sechs Uhr. Dann wuschen wir uns, zogen uns fesch oder akkurat an und stürmten an Land. Mit meinem intimsten Kameraden, dem Amerikaner, unternahm ich eine lustige Wagenfahrt, die nur einen Rubel kostete. Wir wollten den zerlumpten Kutscher verhauen, weil er uns um zehn Kopeken betrog. Aber sein einfältiges Gesicht rührte uns zu sehr.

      Am liebsten wäre ich immer allein ausgegangen. Da aber meine Vorschüsse nicht ausreichten, schloß ich mich fremden Kapitänen und Steuerleuten an, die ich kennengelernt hatte. Sie duldeten mich gern, weil ich gebildeter und frecher als die meisten Matrosen war. Diese Herren ließen viel Geld springen und brachten es in einem Bordell fertig, alle nicht seemännischen Gäste hinauszukaufen. Das heißt deren Zeche zu übernehmen und ihnen die Tür zu weisen. Die Bordelle empfingen uns mit offenen Armen. Für uns Seeleute waren sie sogar sonntags geöffnet. Es gab dort Mädchen im Alter von 10–60 Jahren. Man tanzte zunächst wie auf einem mondänen Ball zu weicher Musik und wählte dann sachlich.

      Auch Odessa liefen wir an, um Maiskörner einzunehmen. Dann passierten wir Konstantinopel und die Dardanellen