Stellungslos
Das war eine kurze, doch für meine Ungeduld noch zu lange Überfahrt bis Hamburg. Ich brannte darauf, Deutschland und meine Freunde wiederzusehen.
Aber die Freuden dieses Zurückseins genoß ich nur kurz. Denn es galt nun, ein neues Schiff zu suchen. Das war, wie ich hörte und bald erfuhr, sehr schwer. Mein Vater hatte sich an seine Freunde Schrenk und Detlev von Liliencron gewandt. Einer dieser Herren empfahl mich in Hamburg bei dem Reeder De Freitas. Der versprach mir freundlich, sich nach einer Stellung – einer »Chance« sagten wir – für mich umzusehen. Ich möchte mich nur ein wenig gedulden. Mit dieser Aussicht kneipte ich nachts mit meinen Freunden. Aber das Geld, das mir Vater gesandt hatte, ging schnell dahin, und das Sichgeduldenmüssen dauerte weiter. Ich suchte zwar selber eifrig nach Chance, stand jeden Morgen früh auf. Ging nach dem Seemannsamt und nach den Heuerbüros der Schiffahrtslinien. Doch da war keine Vakanz, und wenn eine war, so warteten schon hundert früher Vorgemerkte. In der Angelegenheit De Freitas wurde ich bald hierhin, bald dorthin bestellt, mußte weite Wege laufen und stundenlang in Büros warten. Endlich bot mir der Reeder eine Stellung auf der »Thekla« an. Leider nahm ich das nicht an, weil Thekla ein Dampfer war. Ich brauchte für meine Karriere, das heißt für das künftige Steuermannsexamen bescheinigte Fahrzeit auf Segelschiffen. So dankte ich De Freitas und ging nun selber mit doppeltem Eifer auf die Suche. In aller Frühe stellte ich mich am Seemannsamt an. Ich ging auch persönlich auf die neu eingelaufenen Segelschiffe. Die lagen verstreut in den sich weit ausdehnenden Hafenanlagen. Das kostete mich stundenlange Fahrten und Wanderungen. Und ich holte mir doch immer nur abschlägigen Bescheid.
Um Geld zu sparen, wohnte ich anfangs für 40 Pfennig pro Tag in der Herberge zur Heimat. Es ging dort recht unordentlich zu, so daß ich meine Briefe lieber postlagernd bestellte. Der Beamte auf dem Postamt kannte mich bald. »Es ist kein Geld da«, sagte er ironisch. Andermal lächelnd: »Sind Sie schon wieder da! Fahren Sie nicht bald einmal nach China?«
Dann zog ich wieder zu Hermann Krahl. Seine Frau war eine Schwägerin von Kerner, der mich seinerzeit ausgerüstet hatte und mir nun hoch und teuer schwur, ein erstklassiges Schiff für mich zu verschaffen. Bei Krahl logierten wieder neu ausgerüstete Jungen, aber auch schon befahrene Jünglinge. Alle warteten auf Stellung und gingen wie ich jeden Tag auf die Suche. Denn Kerner ließ uns völlig im Stich. Als der Oktober so verging, entschloß ich mich, auch Stellung auf Dampfern anzunehmen und, wenn es sein müßte, auch als Heizer, Trimmer oder Steward. Tag für Tag lief ich nach den Heuerbüros der Hapag und anderer großer Schiffahrtslinien. Ich wartete unter einem Gedränge von Arbeitslosen zu einer bestimmten Stunde vor dem englischen Seemannsamt auf der Straße. Wenn der Manager dann rief: »I want a sailor!« dann stürzte ich mit vielen anderen vor. Aber selbst wenn ich als erster oder dritter die Tür erreichte, wurde ich abgewiesen, weil man Engländer bevorzugte und weil ich zu jung wäre.
»Leider noch immer keine Chance«, mußte ich immer wieder nach Hause berichten. Kein Wunder, daß Vater mißtrauisch wurde. Er fürchtete, daß ich in ein liederliches Leben geriete. Es waren aber wirklich schlechte Zeiten für Seefahrer und besonders für so junge wie ich. Ich suchte von früh bis abends. Ich versprach den Heuerbasen eine halbe Monatsgage, wenn sie mir irgendwelchen Schiffsposten verschafften. Sogar vor dem allgemeinen Arbeitsamt stellte ich mich an, um als Nietenwärmer oder Hafenarbeiter anzukommen. Dabei lebte ich ganz einfach, trug keinen Kragen, sondern nur einen blauweiß gestreiften Jumper zu einer alten Hose und eine Schirmmütze. Allerdings zechte ich nachts mit meinen Leidensgefährten von Krahl. Wir verkehrten in einer kleinen Bierkneipe am Kraienkamp gegenüber der Michaeliskirche. Die Witwe Seidler führte dieses Kellerlokal. Sie hatte zwei erwachsene Töchter, Alwine und Meta, und ein kleines Töchterchen Ella. In Meta verliebte ich mich mehr und mehr. Es ergaben sich Romane und dramatische Szenen. Unter uns Krahlsbrüdern war ein Zwerg, ein ehemaliger Jockey, namens Seppl. Den ohrfeigte ich, weil er Meta eine Hure nannte. Ich hatte aber in derselben Zeit mit Seppls Frau ein heimliches Techtelmechtel. Meta wurde von vielen von uns verehrt. Zu der Rechtschaffenheit, die allen Seidlers eigen war, hatte sie eine besonders sichere, aber scharmante Schroffheit. Auch war sie die Intelligenteste in der Familie. Mein Hauptrivale war der Böhme Irak, ein hübscher und schmissiger Kerl. Mit ihm hatte ich erbitterte Schlägereien um Meta.
Der Sachse Rienchen. Er saß über einen Brief gebeugt, und ich merkte ihm an, daß er Kummer hatte.
»Rienchen, was fehlt dir?«
»Nichts.« Er wehrte ab, wischte sich verstohlen die Augen.
»Sag' mir's doch. Hast du schlechte Nachricht?«
Er seufzte. »Laß mich! – Ihr werdet mich bald los sein.«
»Rienchen, was ist geschehen?«
»Geschehen?« er lachte bitter und zerknitterte den Brief. »Mutter tot, Schwester tot. – Was kümmert's euch.«
Ich tröstete ihn leise. Bald erfuhr ich, daß kein wahres Wort an seiner Erzählung war, daß er vielmehr öfters solche Komödien spielte, um bei uns Rührung zu erwecken. Wir gewöhnten ihm das rasch ab, indem wir ihm Messer, Revolver und Stricke hinlegten und ihm zuredeten, doch endlich seinem geplagten Leben ein Ende zu machen.
Meine besten Kameraden waren Handloß, Schumacher und ein Schlesier, dessen Vater Dienstmann in Görlitz war. Schumacher war der einzige von uns, der so reichlich Geld von Hause erhielt, daß er gelegentlich ein Faß Bier auflegen konnte. Das taten sonst anstandshalber aber meist nur auf Pump diejenigen, die Chance fanden. Jedesmal ein seltenes, aber dann eben für alle erfreuliches Ereignis. Für gewöhnlich machten wir nur bescheidene Zechen.
Die gutmütigen Seidlers, die an unseren Schicksalen von ganzem Herzen teilnahmen, borgten und schenkten so viel, daß sie darüber nie auf einen grünen Zweig kamen. Abgesehen von unserem Stammtisch verkehrten dort nur noch Bürstenbinder und ein paar Hafenarbeiter. Ab und zu kam eine viel Geld verstreuende Bordellwirtin aus der Nachbarschaft.
Diesen an sich ganz begreiflichen Wirtshausverkehr mit meinen Kameraden und die damit verbundenen Ausgaben verschwieg ich törichterweise meinen Eltern. Ja, ich schrieb ihnen sogar immer wieder, sie möchten nun kein Geld mehr senden, ich käme mit dem zuletzt Gesandten noch lange aus. Dann aber erhielten sie plötzlich Rechnungen von Krahl und Kerner und fragten erstaunt an, ob das seine Richtigkeit hätte. Kurz, ich berichtete nicht aufrichtig. Und so glaubten meine Eltern wohl auch nicht recht daran, daß ich mir tagsüber soviel Mühe gab, um endlich unabhängig von ihnen zu sein.
Ich hatte De Freitas wieder aufgesucht. Ein etwas peinlicher Gang, den ich dann vielmals wiederholen mußte. Weil der Herr mich für andermal bestellte, andermal aber verreist, ein drittes Mal in einer Sitzung und beim viertenmal nicht anwesend war. Schließlich versprach er oder versprachen andere Leute, an die ich weiterempfohlen wurde, mich auf der »Potosi« unterzubringen, dem größten Segelschiff der Welt. Ich möchte mich nur noch ein wenig gedulden. Warum? Das schilderten sie mir einleuchtend, und ich hinterließ meine Adresse.
Da war also ein Lichtblick. Trotzdem lief ich weiter meine gewohnten Bettelwege zu Heuerbasen und Heuerbüros und auf eingelaufene Schiffe. Auch an Bord der »Lutetia«, die noch im Hafen lag, fragte ich an, ob man mich nach England zurücknehmen wollte. Die Arbeitsverhältnisse für Seeleute sollten ja überall günstiger sein als in Deutschland. Aber »Lutetia« wies mich ab. Vielleicht war man auf der Herfahrt mit meinen Leistungen nicht zufrieden gewesen. Dann machte ich die Adresse einer entfremdeten Verwandten von Mutter ausfindig, nur weil ich dachte, daß sie Beziehungen zu Seefahrtskreisen hätte. Ergab auch nichts als Zeitverlust. In der Potosi-Angelegenheit rührte sich nichts. Sonst überall Lichtblicke, Vertröstungen, Hinhaltungen. Nichts Positives.