»Ich kann mir's ja denken, aber mach dei Augen uf, so weit, daß du und dei ganzes Leben drinne Platz hast, sonste spielt dir der Schatten den Übermann, und so ein Schwarzes in uns is unersättlich.«
»...und der Gottsturm«, fügte Marie leise hinzu. Denn in der Ferne war der Leschkowitzer Kirchturm aus dem Nebel getaucht, und sein Riesenfinger drohte herüber, in das Herz der jungen, glücklosen Frau.
»Auch das, freilich«, bestätigte Frau Wende.
Dann schritten sie schweigend nebeneinander hin und trennten sich in der Kirche mit ernstem Blick. Während der ganzen Messe saß Marie mit niedergeschlagenen Augen, weil sie den bunten Putz, das Spiel vor dem Altar nicht ertragen konnte.
Von allem wurde sie betäubt, zurückgeworfen in ihr Leben, das sie nicht verstand. So bedeckte sie den Stern ihres Auges und drängte sich mit ihrem Gedankenstammeln, ihrer inbrünstigen Seele an den unbegreiflichen Schatten Gottes, der ihr tiefer und lebendiger geworden war, seit sein Priester so an ihr gefrevelt hatte.
Wie sie so dasaß, fiel ihr Blick von ungefähr in das aufgeschlagene Gebetbuch und las die Worte: »Nimm dein Kreuz auf dich und folge mir nach.«
Sie erkannte, an ihrem Manne unrecht gehandelt zu haben, vom Anfange des unseligen Verhältnisses an, besonders aber an jenem Sonntag in der Nacht, da er unfern des Gehöftes im Fuchsloch um ihre Liebe gebettelt hatte.
Sie nahm sich vor, freundlich zu sein, sich zur Liebe überwinden zu wollen und alles zu vermeiden, was ihm unangenehm sein konnte.
So verschwand das bebende Wallen ihres Herzens, und jene Regungslosigkeit erfüllte sie, der sie den Namen Frieden gab.
Um in Einsamkeit diesen gottseligen Vorsatz noch weiter zu befestigen, wartete sie, bis alle Besucher die Kirche verlassen hatten, und ging dann durch den Wald des Freirichters ihrem Hause zu. Die Heide auf den Blößen grünte, die Heidelbeersträucher hingen voll von blaßroten Blütenglöckchen, im jungen, haarfeinen Wildgrase rührten sich eilige Käfer, daß die winzigen Hälmchen bebten.
Sie schritt hin ganz in Gefühl aufgelöst, von keinem Gedanken erfüllt, wie man mit geschlossenen Augen durch ein Märchen wandelt, dessen verwunschene Schönheit dennoch berauschend durch tausend geheimnisvolle Poren auf unsere Seele eindringt.
Da gewahrte sie unter glänzenden Blättern verborgen ein Veilchen. Sie bückte sich rasch und pflückte es, um sich damit zu schmücken. Indem sie sich aufrichtete und ihr Auge erhob, gewahrte sie durch die Stämme des Waldes ihr Haus, das mit seinen grämlichen Fenstern auf sie hersah. Da warf sie das Blümchen zur Erde und setzte im Weiterwandeln fest den Fuß darauf.
Unter den Fenstern auf der Holzbank saß neben ihrem Manne in eifrigem Gespräche ein Fremder, in dem sie nach scharfem Hinsehen zum Erstaunen den Schuster Klose erkannte.
Hochklopfenden Herzens mußte sie anhalten, dann tat sie mechanisch noch ein paar Schritte und trat hinter eine starke Fichte, von wo aus sie unbemerkt alles beobachten konnte. Je länger sie hinschaute, desto unbegreiflicher ward ihr das Ereignis.
Klose saß jetzt unbeweglich, zusammengesunken, wie nur Gebrochene sich halten. Er trug noch den Werktagsanzug, dessen Hosen an den Knien zerrissen waren, daß das schmutzige Fleisch hervorsah. Nun hob er den Kopf und schaute lange geradeaus. Sein Gesicht hatte die Farbe blaßgelben Leders, und die Lider der leeren Augen waren gerötet. Der Schnurrbart hing wirr über die blassen Lippen.
Augenscheinlich hatte ihn ein großes Unglück getroffen, weil er seine selbstgewollte Vereinsamung aufgegeben und hierhergekommen war, wo er doch mit ihr zusammentreffen mußte, die ihm so bitteren Spott angetan hatte. Endlich trat sie hervor und ging mit freundlichem Gruß auf ihn zu.
Er riß die rechte Hand aus der Hosentasche und streckte sie ihr entgegen, indem er ihrem Blick auswich und sich zur Katze niederbeugte, die herbeigeeilt war und gekrümmten Rückens um das Kleid der Herrin strich« »Nee ha, Guste, wie siehst du denn aus?« fragte sie in tiefer Bewegung.
Der Schuster fuhr mit zitternder Hand über das weiche Fell der Katze und sagte mit fistelnder Stimme, ohne aufzusehn: »Mietzla, Mietzla, Mietzla!«
Plötzlich riß er sich auf und antwortete rauh: »Wie ma aussieht, wenn ma nie weeß, wohi!« Dann blickte er wieder still vor sich nieder.
Nach einer Weile sagte er: »Wer heutzutage für sei Eltern sorgt, is ein ausgemachter Affe!« Seine blecherne Stimme klang höhnisch. »Aber kann ma sich helfen? Ma puckelt und zieht den Draht bis ei die Nacht durch die alten Krappen, bloß daß die arme Mutter nich gar noch hungrig sterben muß. Derweile vergißt ma, daß ma eigentlich auch ein Mensch is, und wird ein Gokelsack, über den sich ein jedes lustig macht. Möcht's sein! Was ma muß, soll ma gerne tun, und hat mich eens jemals klagen hören?«
Er brach ab und wartete auf Antwort. Allein beide schwiegen.
Leidenschaftlich werdend, begann er von neuem: »Aber, bin ich alleene Kind? – is de Paule nich ... verflucht! – ich – siehch, deswegen hab' ich mich besoffen, bin in den Gräben herumgestürzt und hab' im Pusche geschlafen.«
Mit Augenzwinkern und Lippennagen kämpfte er gegen sich, dann schleuderte er entschlossen seine Faust wie einen Stein hin und verlor jede Mäßigung: »Da kommt das Mensch! – Da kommt se am Freitage heem, gerade am Freitage, als wenn's bloß den een Tag ei dr Woche hätt. – Ich sitze auf'm Schemel und schlage den letzten Nagel ei den Absatz vo Klenners Stiefeln, bin fertig und lang nachm Geneipe. Plotze geht de Tür uf... ich denk, mich streicht dr Schlag. – Steht de Paule, die eim Schleschen dient, da steht se unter dr Türe und kann nich rein und nich naus, sterrt und lacht, lacht und sterrt, schmeißt den Packs hin, stürzt druf, halt de Hände vors Gesichte und heult, daß zum Erbarmen is ... nee nie, zum Fluchen. Ich wußt glei Bescheid, spring uf, of se zu, reiß se ei de Höh und schrei: ›Vo wem hast's!‹ Da war's een Augenblick stille, stille, als wenn de Bäume Kirche haben. Dernach würgt se und würgt ... vo eem solchen Stoppelhengste, so eem Kerle, der selber keene Eltern hat, der bloß rumleeft und Kinder ei de Welt setzt, als ob's noch zu wing Menschen hat, als ob's wer weeß wie scheen wär dahier of der Erde! Und nu sag mr eener, hat's een Gott? Ma verdient gerade so viel, daß de Mutter ein Schnittchen Brot, Kartoffeln und Kaffee hat, und da kommt se heem, jetze, wo de Arbt alle is, wo ein jeder barfuß rumleeft, der gesunde Füße hat. Kee Geld und Hunger, Elend und nich wissen wohin ...«
Die letzten Worte hatte er in Verzweiflung, halblaut vor sich hingesprochen. Dann ließ er den Kopf sinken und bewegte tonlos die Lippen, daß man nur den überhangenden Schnurrbart zittern sah.
»Nu, Guste, weeste nich, was du da zu tun hast?« nahm, vor Erregung bebend, Exner das Wort, »haste kee Kurasche? Das wirst du doch wissen, was eem solchen Mensche gehört!«
Mit wildem Lachstoß riß der Angeredete den Kopf herauf: »Karle, nich wissen? ich? – Siehch, de Haare sein bloß so geflogen. Die Mutter schrie und stürzte vr Angst vo dr Banke, und ich hatte schon den Hammer in dr Hand, hol aus und denk: Äh, hol's der Teufel! ... aber da trat's linde hinter mich, ich besann mir's, setzte die Mutter of de Banke, lehn se an de Wand, nahm de Mütze und ging naus. Of dr Schwelle dreht ich mich um und schrie: Nu, Zuppe, siehch, wie du durchkommst!«
»Du hast se gehaun, Guste, und's Kind? Weeßte nie, daß de schon ein Mörder sein kannst?« fragte Marie bleichen Gesichts.
Der Schuster saß verstockt und schüttelte dann wie über einen eigenen kuriosen Gedanken den Kopf: »Das Kind – haha, 's is zum Lachen«, redete er dumpf in sich, reckte sich auf und hielt Marie die geöffnete Hand dicht vors Gesicht: »Da, Marie, nimm dr den Ring!« Das junge Weib sah sprachlos von der leeren Hand in sein gespanntes Gesicht und dachte, er sei toll geworden.
»Ich bin ganz gescheit, darfst dich nich fürchten«, sagte er lächelnd, wandte die Hand nach unten, als werfe er etwas weg, und trat dann mit den Füßen den Erdboden, als vernichte er einen Gegenstand. Darauf brach er in ein schreiendes Gelächter aus: »Wenn's wahr is, was de vorhin vom Kinde gesagt hast, da mußte dahier auch